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Physische Arbeitsbelastungen (Foto: photo 5000/Fotolia)
Ergonomie

Physische Belastungen bei der Arbeit: Bedeutung, Beurteilung, Maßnahmen

André Klußmann
10.08.2015
Viele Erwerbstätige sind hohen physischen Belastungen bei der Arbeit ausgesetzt. Diese erfordern besondere ergonomische Maßnahmen. Im Beitrag werden Häufigkeit, Wirkungszusammenhänge, arbeitsmedizinische Vorsorge, Methoden der Bewertung und Gestaltung und deren Weiterentwicklung betrachtet.

Der nachfolgende Beitrag geht auf zentrale Herausforderungen der Ergonomie in Bezug auf physische Belastungen bei der Arbeit ein.

1. Häufigkeiten verschiedener physischer Arbeitsbelastungen

Nach wie vor sind viele Erwerbstätige hohen physischen Belastungen bei der Arbeit ausgesetzt. Dies zeigen z. B. die Ergebnisse der BIBB/BAuA-Befragung unter 20.000 Beschäftigten in Deutschland im Jahr 2012. Mehr als die Hälfte der Befragten (54 %) gaben an, häufig im Stehen arbeiten zu müssen. Etwas weniger Befragte (42 %) sagen, häufig Arbeiten mit den Händen auszuführen, die eine hohe Geschicklichkeit, schnelle Bewegungen oder größere Kräfte erfordern. Etwa jeder Vierte (22 %) muss bei der Arbeit schwere Lasten tragen oder heben. Häufiges Arbeiten in Zwangshaltungen (also in gebückter, hockender, kniender, liegender Stellung oder über Kopf) geben 17 % der Befragten an (BIBB/BAuA, 2012). Im Vergleich mit der BIBB/BAuA-Befragung aus dem Jahr 2006 ergeben sich nur wenige Veränderungen: Stehen, Heben und Tragen schwerer Lasten sind im Jahr 2012 etwas seltener angegeben worden, Zwangshaltungen hingegen etwas häufiger.

Neben Befragungsdaten wie aus der hier zitierten letzten BIBB/BAuA-Erhebung (BIBB/BAuA, 2012) mussten in Verbindung mit der eigentlich gewöhnlich ganzheitlichen Beurteilung der Arbeitsbedingungen (Gefährdungsbeurteilung zu Sicherheit und Gesundheitsschutz von Arbeitssystemen) u. a. betrieblich erhobene Arbeitsbelastungsdaten vorliegen. Die Realität in den Betrieben in Deutschland scheint dies zurzeit aber (noch) nicht abzubilden (vgl. LIA.fakten, 2014). Hin und wieder wird aber dazu in der Fachliteratur uber ganzheitliche Vorgehensweisen berichtet, die zumindest in Pilotbereichen erprobt wurden oder flächendeckend in Betrieben umgesetzt werden; und dies nicht nur zu Bildschirmarbeit in Bürobereichen.

Beim 60. Frühjahrskongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) in München wurde über Untersuchungsergebnisse berichtet, die auf der betrieblichen Arbeitsbewertung und Gefährdungsbeurteilung der Arbeitssysteme in Fertigungsbereichen (sogen. „Produktionsarbeitsplätze“) von 40 Werken eines Unternehmenskonzerns mit dem Praxisinstrument Belastungs-Dokumentations-System (BDS) gründen. In diesen Arbeitssystemen arbeiten über 19.000 Beschäftigte. Auf dieser Basis wurde u. a. ausgewertet, wie viele Beschäftigte in den Arbeitssystemen unter wesentlich erhöhten physischen Arbeitsbelastungen tätig sind. Dies sind beispielsweise bei den Belastungsmerkmalen „manuelle Lasthandhabungen“ 14 %, „dynamische Muskelarbeit“ 8 % und „manuelle Arbeitsprozesse“ 1 % der Beschäftigten.
Für die Belastungsmerkmale „Körperhaltung“ und „Körperbewegung“ wurde ausgewertet, an wie vielen Arbeitssystemen mehr als 1h eine bestimmte Körperzwangshaltung einzunehmen ist. Dies betrifft beispielsweise für „stark vorgeneigte und oder verdrehte Körperhaltung“ 16 % und für „Knien/Hocken/Kriechen“ 2 % der in diesen Arbeitssystemen beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Mühlemeyer et al., 2014).

2. Zusammenhang zwischen physischen Arbeitsbelastungen und Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems

Durch arbeitsbedingte Überlastungen sowie dadurch verursachte Über- und Fehlbeanspruchungen können Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems entstehen (Gebhardt et al., 2006; Klußmann et al., 2012). Ebenso können z. B. Tätigkeiten mit erheblichen Anteilen dynamischer Arbeit unter Einbeziehung großer Muskelgruppen mit hohem Energieaufwand und somit hoher kardiovaskulärer und pulmonaler Beanspruchung eine Überlastung und -beanspruchung darstellen (Holtermann et al., 2010).

Allgemein gehören Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zu den häufigsten Gründen für Arbeitsausfall in Deutschland. Die Arbeitsausfalltage (AU-Tage) als Folge von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes summierten sich im Jahr 2012 auf 122,1 Mio. AU-Tage und damit 24,3 % aller AU-Tage. Daraus resultierte ein Ausfall der Bruttowertschöpfung in Höhe von etwa 21,5 Mrd. Euro allein für das Jahr 2012 (SuGA, 2013).

3. Arbeitsmedizinische Vorsorge bei wesentlich erhöhten physischen Arbeitsbelastungen

Physische Arbeitsbelastungen sollten generell auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Dort wo wesentlich erhöhte physische Arbeitsbelastungen vorliegen, ist den Beschäftigten eine arbeitsmedizinische Vorsorge anzubieten (Angebotsvorsorge). Entsprechende Regelungen hierzu finden sich in der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV). Demnach haben Arbeitgeber ihren Beschäftigten nach § 5 Absatz 1 in Verbindung mit Anhang Teil 3 Absatz 2 Nummer 4 ArbMedVV vor Aufnahme der Tätigkeit und anschließend in regelmäßigen Abständen arbeitsmedizinische Vorsorge anzubieten. Dabei handelt es sich um Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen,
die mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System verbunden sind und zwar durch die Belastungsarten

a) Lastenhandhabung beim Heben, Halten, Tragen, Ziehen oder Schieben von Lasten,
b) repetitive manuelle Tätigkeiten oder
c) Arbeiten in erzwungenen Körperhaltungen im Knien, in langdauerndem Rumpfbeugen oder -drehen oder in vergleichbaren Zwangshaltungen.

Ergänzend zur ArbMedVV geben Arbeitsmedizinische Regeln (AMR) den Stand der Arbeitsmedizin und sonstige gesicherte arbeitsmedizinische Erkenntnisse wieder. Für den Bereich der physischen Arbeitsbelastungen ist dies die AMR 13.2 „Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System“. Bei Einhaltung der AMR 13.2 kann der Arbeitgeber davon ausgehen, dass die in der AMR konkretisierten Anforderungen der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) erfüllt sind (Vermutungswirkung, § 3 Absatz 1 Satz 3 ArbMedVV). Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz für die Beschäftigten erreichen.

4. Methoden zur Bewertung, Beurteilung und Gestaltung von physischen Arbeitsbelastungen

Zu hohe physische Arbeitsbelastungen und Arbeitsbeanspruchungen sollten möglichst von vornherein vermieden werden oder frühzeitig durch wirksame Maßnahmen der Arbeitsgestaltung kompensiert werden. Dies setzt jedoch eine entsprechende Arbeitsbewertung und  Gefährdungsbeurteilung voraus, wie es zum einen nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) gefordert wird, die zum anderen aber auch notwendig ist, um die Notwendigkeit der Angebotsvorsorge zu ermitteln. Hierzu werden u.a. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und dem Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) die Leitmerkmalmethoden zur Beurteilung von Heben, Halten und Tragen von Lasten (Steinberg et al., 2011), zur Beurteilung von Ziehen und Schieben von Lasten (Steinberg & Windberg 2008) und zur Beurteilung von manuellen Arbeitsprozessen (Steinberg, Liebers & Klußmann, 2014) empfohlen.

Die BAuA und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) haben im Jahr 2013 eine Kooperation zur Weiterentwicklung des Methodeninstrumentariums für physische Arbeitsbelastungen beschlossen. Ziel des gemeinsamen Forschungsprojekts „MEGAPHYS – Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz“ ist die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung eines umfassenden und aufeinander abgestimmten Methodeninventars zur Durchführung der betrieblichen Gefährdungsbeurteilung bei physischen Arbeitsbelastungen.

Beteiligt sind hierbei neben der BAuA in Berlin das Institut für Arbeitsschutz (IFA) der DGUV in Sankt Augustin, das Institut für  Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e. V. (ASER) in Wuppertal, das Institut für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt (IAD), das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) sowie ARBMEDERGO in Hamburg. Das Forschungsprojekt beinhaltet insbesondere die Herausarbeitung wissenschaftlich fundierter Bewertungsmaßstäbe und die Entwicklung eines integrierten Methodeninventars mit verschiedenen Differenzierungsstufen der betrieblichen Gefährdungsbeurteilung (Hartmann et al., 2014).

5. Praxisgerechte Entwicklung von Methoden

Im oben genannten MEGAPHYS-Forschungsprojekt werden derzeit Methodenentwürfe für die Beurteilung von Belastungen durch manuelle Lastenhandhabungen, repetitive Arbeitsprozesse, Krafteinwirkungen, belastungsintensive Körperhaltungen und -bewegungen sowie  kombinierten Belastungen bei Mischarbeit (weiter-)entwickelt. Diese sollen im Jahr 2015 in Betrieben möglichst vieler Branchen erprobt werden. Hierzu werden noch interessierte betriebliche Akteure für eine alternsgerechte Arbeitswelt gesucht, die diese Methoden gemeinsam mit den Entwicklern in ihren Betrieben exemplarisch einsetzen und bei der Erprobung mitwirken. Interessierte Akteure werden gebeten mit dem Autor Kontakt aufzunehmen.

Der Autor
Dr.-Ing. André Klußmann, M.Sc., Eur.Erg., ist am Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER) in Wuppertal tätig.


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Programmbereich: Arbeitsschutz