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Für ein reines Jura-Studium wollte PD Dr. Pia Claudia Doering sich nach dem Abitur nicht entscheiden und hat stattdessen Philologie und Jura miteinander kombiniert. Das „Decameron“ kommt ihrer Interessenlage daher besonders entgegen. (Foto: privat)
Nachgefragt bei PD Dr. Pia Claudia Doering

Pia Claudia Doering: „Die Novellen fragen danach, wie sich Macht, Geld, Ansehen, Wissen und rhetorisches Talent auf Angeklagte und ihr Recht auswirken“

ESV-Redaktion Philologie
09.07.2020
Mit seiner Rahmenhandlung der Pest, die 1348 Florenz heimsucht, erfreut sich Boccaccios Decameron angesichts der Corona-Pandemie besonderen Interesses. Während in unserer Gegenwart die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus häufig Anlass zu rechtlichen Fragen und Klagen geben, beschäftigen sich die Novellen des Decameron vorwiegend mit Themen, welche es den erzählenden Figuren erlauben, sich von dem Wüten der Pest abzulenken. Dabei werden auch viele rechtliche Fragen aufgeworfen – mit welchem Ergebnis, das erfahren Sie unter anderem im folgenden Interview mit unserer Autorin PD Dr. Pia Claudia Doering.
Liebe Frau Doering, in Ihrer Habilitationsschrift „Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron untersuchen Sie anhand ausgewählter Novellen den Stellenwert juristischer Praktiken innerhalb der Sammlung. Wie kamen Sie zu der Idee, die Novellen des Decameron hinsichtlich juristischer Kategorien und Praktiken zu untersuchen? War Ihr eigener Werdegang hierbei ausschlaggebend? Oder inwiefern ist das Decameron ein besonders geeignetes Werk für eine „juristische Lektüre“?

Doering: Sicherlich hat mein grundlegendes Interesse an juristischen Fragen die Wahl des Themas begünstigt. Mein Vater hat mich als Jugendliche mit ins Gericht genommen und zuhause wurde ich gelegentlich zum Korrekturlesen seiner juristischen Kommentierungen herangezogen. Für ein reines Jura-Studium wollte ich mich nach dem Abitur jedoch nicht entscheiden und habe stattdessen Philologie und Jura miteinander kombiniert.

Das Decameron kommt meiner Interessenlage besonders entgegen: Es entsteht zu einer Zeit, als die Juristen zunehmend an gesellschaftspolitischem Einfluss und Prestige gewinnen. Italien wird zum Zentrum der europäischen Juristenausbildung. Wie viele andere Dichter studiert Boccaccio zunächst Jura, weil sein Vater sich davon eine glänzende Karriere für den Sohn erhofft. Boccaccios Rechtskenntnisse fließen später auf vielfältige Weise in seine Novellen ein.

Ein Fazit, zu dem Sie in Ihrer Arbeit kommen, lautet, dass „novellistisches Erzählen“ den „juristischen Sprach- und Beweisformen hinsichtlich des Erkenntnispotentials“ in manchen Fällen „überlegen“ sein kann (S. 292). Wie bewerten Sie das Verhältnis von Recht und Literatur allgemein? Und lassen sich aus dem im Decameron aufgeworfenen Verhältnis von Recht und Literatur Rückschlüsse auf unsere Zeit ziehen?

Doering: Zunächst einmal weisen Recht und Literatur eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. In beiden Disziplinen ist das Medium der Sprache zentral und beide sind in hohem Maß sprachreflexiv. Die Rhetorik gehört zum Handwerkszeug von Juristen und Dichtern. Und das Erzählen von ‚Fallgeschichten‘ spielt nicht allein in der Literatur, sondern auch im Recht eine wichtige Rolle. Über die narrative Darstellung wird nicht nur der zu beurteilende Sachverhalt dargelegt, mit der Narrativierung werden darüber hinaus gesellschaftliche Wertvorstellungen in den Urteilsprozess eingebracht.

Allerdings muss das Recht an anderer Stelle, beispielsweise bei der Formulierung von Normen und Urteilen, die in der Narration erzeugten Spielräume wieder zurücknehmen, um eindeutig zu sein und seine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Literatur hingegen zeichnet sich durch Deutungsoffenheit aus: Sie ist nicht gezwungen, eindeutige Kausalzusammenhänge herzustellen, sondern kann auch dem Nicht-Wissen, Widersprüchen und Ambiguität Raum geben. In dieser Offenheit fordert sie zur Reflexion heraus und ist in besonderer Weise geeignet, das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Auszug aus: Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron 24.06.2020
Novellistisches Erzählen als Alternative zu juristischen Erkenntniswegen?
Ist Recht eigentlich gerecht? Stehen am Ende juristischer Praktiken und Verfahren immer Wahrheit und Erkenntnis? Können rechtliche Normen auf alles eine Antwort geben? Und welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang literarische Ausdrucksformen? mehr …

Sie behandeln 13 der 100 Novellen des Decameron in Ihrem Werk. Wie ist die Auswahl erfolgt? Und hatten Sie eine ‚Lieblingsnovelle‘? Wenn ja, warum? Haben Sie auch den Charme oder Reiz von Novellen entdeckt, die Sie davor einfach überlesen hätten? Wenn ja, warum?

Doering: Viele Novellen des Decameron sind durch eine agonale Struktur bestimmt, d.h. es treten zwei Widersacher oder Parteien gegeneinander an. Ich habe daher zunächst solche Novellen für die Untersuchung ausgewählt, in denen ein Jurist einem Vertreter einer anderen Disziplin gegenübersteht und sich in der Auseinandersetzung mit ihm beweisen muss.

Dazu gehört beispielsweise das Rededuell zwischen dem Rechtsgelehrten Forese da Rabatta und dem Maler Giotto, aber auch der Wettstreit zwischen einem Piraten und einem alternden Richter um dessen junger Ehefrau, den der Seeräuber – ganz zur Freude der Frau – für sich entscheidet.

Andere Novellen habe ich deshalb ausgesucht, weil komplexe Rechtsfälle – beispielsweise Mordanklagen nach ungeklärten Todesfällen – in ihrem Zentrum stehen und sie eindringlich die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung problematisieren, mit der sich Juristen konfrontiert sehen. 

Einen dritten Bereich bilden solche Novellen, die Fragen des Eherechts aufwerfen, indem sie etwa von nicht standesgemäßen Liebesverhältnissen oder vom Ehebruch handeln. Gerade in diesem Feld habe ich einige weniger bekannte Novellen für mich entdeckt, denen in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, deren Interpretation aber auch für das Verständnis der weitaus bekannteren Erzählungen aufschlussreich ist.

Zu großer Berühmtheit ist die Novelle von Ghismonda gelangt, deren Vater ihren heimlichen Liebhaber töten lässt und der Tochter dessen Herz in einem goldenen Pokal vorsetzt. Aber auch andere Novellen, wie die in meinem Buch behandelte Geschichte von Pietro und Violante, problematisieren die Angemessenheit väterlicher Strafmaßnahmen und erlauben Rückschlüsse auf Boccaccios kritische Auseinandersetzung mit der patria potestas.

Falsche Heilige, Gauner, junge Liebespaare, untreue Frauen, untreue Männer, rachsüchtige Väter, giftige Kröten – in Boccaccios Decameron tummeln sich viele kuriose Gestalten und nicht selten geht es hoch her. In Ihrer Arbeit haben Sie dargestellt, dass Boccaccio die historische Situation der Wandlungen im Straf- und Prozessrecht abbildet. Wie verhält es sich mit der Darstellung seiner Figuren: Haben diese etwa auch einen historischen Kern? Bildet Boccaccio die Milieus seiner Zeit nach?

Doering: Boccaccio entwirft ein buntes und facettenreiches Panorama der spätmittelalterlichen Gesellschaft, insbesondere der Stadt Florenz. Er beleuchtet die großen gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit: die zunehmende Bedeutung des Handels, die auch den Bedarf an rechtlichen Regelungen erhöht, den wachsenden Einfluss von Gelehrten, Juristen, aber auch Medizinern, und damit verbunden die Herausbildung des Expertentums.

Zu den Protagonisten des Decameron zählen neben Adligen und Bürgern auch Handwerker. Die Liebenden Simona und Pasquino, die durch vergifteten Salbei den Tod finden, entstammen dem Milieu der Wollweber. Vor dem Hintergrund der sozialen Differenzierung problematisieren die Novellen, welche außerrechtlichen Faktoren Einfluss auf das Rechtsurteil haben. Sie fragen danach, wie sich Macht, Geld, Ansehen, Wissen und rhetorisches Talent darauf auswirken, ob ein Angeklagter vor Gericht zu seinem Recht kommt.

Ihr Buch erscheint 2020, einem Jahr, das schon jetzt sehr stark durch die Corona-Pandemie geprägt ist. Auch die Rahmenhandlung des Decameron thematisiert eine Seuche. Sie spielt im Pestjahr 1348, in dem die zehn Novellenerzähler und -erzählerinnen der brigata aus dem Elend in Florenz auf ein Landgut flüchten, um sich Geschichten zu erzählen. Lässt sich daraus auch für uns eine Lehre über Literatur in Zeiten der Epidemie bzw. Pandemie ziehen?

Doering: Es ist erstaunlich, wie viele der Fragen, die uns seit dem Ausbruch von Covid-19 beschäftigen, Boccaccio in seiner eindringlichen Beschreibung der Großen Pest bereits stellt. Es geht darin um das Verstehen von Ansteckungsmechanismen, Kontroversen unter Experten, die Wirksamkeit behördlicher Maßnahmen und die gesellschaftliche Verantwortung jedes einzelnen. Boccaccio entwirft ein düsteres Bild der Lage: Nicht nur die Mediziner gelangen angesichts der Pest an ihre Grenzen, auch Politik, Recht und Religion versagen. Das Rechtssystem bricht zusammen, da niemand die Einhaltung der Gesetze mehr überwacht. Die Toten werden in Massengräbern verscharrt und nicht, wie zuvor, feierlich im Beisein eines Priesters bestattet.

In dieser katastrophalen Lage beschließt die brigata, aufs Land zu fliehen und ihre Zeit dort mit dem Erzählen von Geschichten zu verbringen. Im Erzählen finden die zehn jungen Leute ein Gegenmittel gegen die Pest und dies nicht nur im Sinne von Ablenkung und geselligem Zeitvertreib. Vielmehr verhandeln die Erzählungen gesellschaftliche Probleme, die bereits vor Ausbruch der Pest existierten, durch sie aber verschärft hervorgetreten sind, darunter die Heuchelei der Geistlichen und die Frage nach den Grenzen des Expertenwissens, ja des menschlichen Wissens überhaupt. Das Erzählen von Novellen oder, weiter gefasst, literarisches Sprechen – und da sind wir wieder bei einer Ihrer ersten Fragen zum Verhältnis von Recht und Literatur – ermöglicht eine Redeweise, die der Pluralität von Deutungen und Meinungen Raum gibt. Auf heitere und anregende Weise stiftet es außerhalb von geschlossenen Gelehrtengruppen Erkenntnis und wappnet so für den Umgang mit der Epidemie.

Liebe Frau Doering, haben Sie vielen Dank!

Wenn auch Sie gespannt sind auf weitere Erkenntnisse zum Einfließen von Rechtspraktiken in den Decameron sind, empfehlen wir Ihnen Pia Claudia Doerings Buch „Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron.


Zur Autorin
PD Dr. Pia Claudia Doering hat Romanistik, Öffentliches Recht und Philosophie studiert. Die vorliegende Studie entstand als Habilitationsschrift am Göttinger Graduiertendkolleg "Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts" sowie am Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“.

Praktiken des Rechts in Boccaccios Decameron
von Dr. Pia Claudia Doering

Giovanni Boccaccio entwirft im Decameron ein vielfältiges Panorama städtischen Lebens im spätmittelalterlichen Italien. Die einhundert Novellen nehmen nicht nur Kaufleute und Handwerker, Priester und Ärzte in den Blick, sondern auch Juristen und deren wachsenden Einfluss in Gesellschaft, Religion und Politik.

Boccaccio, der sechs Jahre lang Jura studiert hat, erweist sich als scharfsichtiger Beobachter des gelehrten Rechts und der Rechtspraxis. Seine Novellen, die von Ehebruch, Betrug und Mord handeln, reflektieren Methoden juristischer Wahrheits- und Urteilsfindung. Sie konstatieren einen tiefgreifenden Mentalitätswandel, der wegweisende rechtliche Neuerungen nach sich zieht, darunter die Einführung des Inquisitionsprinzips, die Verdrängung privater Rache und die Entstehung des öffentlichen Strafrechts.

Pia Claudia Doering zeigt anhand einschlägiger Novellen, dass Boccaccio gerade diese Phänomene rechtlicher Innovation thematisiert. In der narrativen Ausgestaltung von Fallgeschichten wird das Recht auf sein Potential geprüft, Gerechtigkeit zu stiften.


(ESV/MD)

Programmbereich: Romanistik