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Mehr als eine Person zu heiraten, ist in der Polygamie normal (Foto: eightstock/Fotolia.com)
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

Polygamie: Weniger ein religiöses denn ein gesellschaftliches Phänomen

ESV-Redaktion Philologie
16.03.2018
Dass ‚polys‘ ‚viel‘ bedeutet wissen wir nicht zuletzt, weil wir Wörter wie polyglott, polyfon oder polysportiv kennen. Aber was verbirgt sich hinter den Begriffen Polygynie und Polyantrie?
Lesen Sie im Weiteren einen Beitrag aus der in Kürze erscheinenden 27. Lieferung des Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte, in dem der Autor Ralf Frassek unter anderem auch den Unterschied zwischen Polyantrie und Polygenie erklärt.

Polygamie

Der aus dem Griechischen entlehnte Begriff Polygamie (‘Vielehe’, von griech. polys: ‘viel’ und gamos: ‘Heirat/Ehe’) bezeichnet die Ehe eines Gatten mit zwei oder mehreren Partnern des anderen Geschlechts. Unter dem Oberbegriff wird differenziert nach Polygynie, der Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen, und Polyandrie, der Ehe einer Frau mit mehreren Männern. In der Menschheitsgeschichte ist dabei die Polygynie weit häufiger anzutreffen als die Polyandrie. Polygamie gab oder gibt es weltweit, auf allen Kontinenten, in den unterschiedlichsten Epochen und Kulturen.

Oft werden Ursprung und Verbreitung der Polygamie mit der Religion des Islam assoziiert. Grund ist die ausführliche Stellungnahme des islamischen Rechts zur Polygamie, insbesondere in Koransure 4, Vers 3. Allerdings wurde die Polygamie durch das religiöse Recht des Islam nicht etwa als Lebensform kreiert, sondern es wurde im Gegenteil ein bereits vorgefundenes Faktum einschränkend geregelt, indem die Zahl der Frauen auf vier begrenzt, deren materielle und emotionale Gleichbehandlung angeordnet und zudem zahlreiche Warnungen ausgesprochen wurden, mehr als eine Frau zu heiraten.

Polygamie ist im Alten Testament allgegenwärtig

Bei näherer Betrachtung erweist sich die Polygamie auch weniger als religiöses, sondern vorrangig als gesellschaftliches bzw. kulturelles Phänomen. So nimmt das Christentum nicht eindeutig Stellung. Die im Alten Testament allgegenwärtige Polygamie wird im Neuen Testament weder ausdrücklich verurteilt, noch gebilligt. In einzelnen christlichen Kirchen oder Gruppen, als deren bekannteste die Mormonen zu nennen sind, spielt die Polygamie bis heute eine wichtige Rolle. Im Judentum waren bis nahe an die Gegenwart Monogamie und Polygamie nebeneinander üblich, je nachdem, ob die Betroffenen im europäischen oder im orientalischen Kulturraum lebten. Im Staat Israel wurden zwar bei der Einwanderung bestehende polygame Ehen anerkannt, die Neueingehung jedoch untersagt. Im Buddhismus und im Hinduismus gibt es ebenfalls keine der Polygamie entgegenstehenden religiösen Dogmen.

Wirtschaftliche Gründe für Polygamie

Die Gründe für die Verbreitung von Polygamie können unterschiedlicher Natur sein. Ein bedeutender und häufiger Grund für die Ausübung von Polygynie liegt darin, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen nur wenige oder gar keine Erwerbs- und Selbstversorgungsmöglichkeiten für Frauen bieten. Verschärft werden können diese Probleme durch ein herrschendes Ungleichgewicht in der Verteilung der Geschlechter, beispielsweise in kriegerischen Gesellschaften. Polygamie kann insbesondere auch der Versorgung von Witwen dienen, verbreitet vor allem bei der Witwe eines Bruders des Ehemannes.

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Von entscheidender Bedeutung sind auch die vorherrschenden landwirtschaftlichen Anbaumethoden. Wird die Arbeit mit leichten Gerätschaften, wie der einfachen Hacke, ausgeübt, was auch Frauen körperlich gut leisten können, ist die Üblichkeit von Polygynie wahrscheinlicher, als wenn auf schweren Böden schweres Gerät, wie der von Zugtieren bewegte Pflug, zum Einsatz kommt. Die Wahrscheinlichkeit ist noch größer, wenn der Wert des Grundbesitzes im Verhältnis zur Arbeitsleistung relativ gering ist. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Europa ist in einigen Regionen Afrikas Bodenfläche in genügendem Umfang verfügbar. Bedeutender für die landwirtschaftliche Produktion ist die Zahl der Menschen, die zur Verfügung stehen, um den Boden zu bestellen. In diesen Gesellschaften und Kulturen ist zu beobachten, dass parallel zur Frage der Üblichkeit der Polygamie sehr häufig auch die Zahlung von Brautpreisen verbreitet ist.

Polyandrie als natürliches Verhütungsmittel

In erster Linie dient die Polygamie in vielen Gesellschaften und Kulturen als Instrument der Bevölkerungspolitik. Mehrheitlich wird hierbei eine größere Zahl an Nachkommen angestrebt, also folgerichtig Polygynie ausgeübt. Im Gegensatz dazu wird die Polyandrie in den kargen Regionen des Himalaya als natürliches Verhütungsmittel genutzt. Auch eine mit mehreren Männern, meist Brüdern, verheiratete Frau kann zur selben Zeit nur einmal schwanger werden, wodurch ein Bevölkerungszuwachs, der zu Versorgungsproblemen führen könnte, vermieden wird.

Ein Zeichen unserer Zeit: die „serielle Polygamie“

In der Gegenwart ist die Bedeutung der Polygamie weltweit stark zurückgegangen. Insbesondere in dem vom Islam geprägten Kulturraum ist ein weitgehender Abschied von dieser Lebensform zu verzeichnen. Es ist die Tendenz zu beobachten, die Polygamie aus Rücksicht auf die Religion zwar nicht gänzlich aus den Rechtsordnungen zu verbannen, ihre tatsächliche Ausübung jedoch durch gerichtliche Kontroll- und Eingriffsrechte stark zu erschweren, beispielhaft in Marokko.

Stärker verbreitet geblieben ist die Polygamie dort, wo die wirtschaftlichen Gesamtverhältnisse entweder sehr ungünstig sind, wie beispielsweise in Ostanatolien, oder ausgesprochen gut, wie in Saudi-Arabien. Den höchsten Anteil polygamer Ehen weisen die Regionen südlich der Sahara auf. In einigen Staaten lebt mehr als die Hälfte aller Männer in einer polygamen Verbindung. Als Haupteinwand gegen die Polygamie wird heute regelmäßig deren Unvereinbarkeit mit dem anerkannten Katalog der Menschenrechte genannt. Verbliebene Befürworter der Polygamie betonen ihren Wert zur Vermeidung von Prostitution und als Alternative zur Ehescheidung. Zur Beschreibung der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse mit stetig steigenden Scheidungsraten und nachfolgenden Wiederverheiratungen ist in der Literatur der Begriff der seriellen Polygamie kreiert worden.

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG)
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Das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte ist ein Standardwerk und liegt mit der nächsten Lieferung, die im April 2018 erscheint, in 2. Auflage bis zum Stichwort „Precaria“ vor.

Es wird herausgegeben von Prof. Dr. Albrecht Cordes, Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, Prof. Dr. Heiner Lück und Prof. Dr. Dieter Werkmüller sowie Prof. Dr. Christa Bertelsmeier-Kierst als philologischer Beraterin.

Die 27. Lieferung des HRG erscheint in Kürze und kann hier bestellt werden. Digital ist das HRG als Datenbank abrufbar: www.hrgdigital.de

 


(ESV/vh)

Programmbereich: Rechtsgeschichte