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RA Dr. Friedrich Wichert: Gerade Grundschülerinnen und Grundschüler sind nach meiner Einschätzung mit Homeschooling überfordert (Foto: privat)
Präsenzunterricht in Schulen

RA Dr. Friedrich Wichert: „Schulkinder haben zu viele Lasten der Pandemie getragen, das muss gerechter werden“

ESV-Redaktion Recht
10.08.2021
An den Schulen durfte vor Beginn der Sommerfreien grundsätzlich nur im Wechselmodell unterrichtet werden. Zwei Schulkinder in Berlin sahen sich hierdurch in ihren Grundrechten verletzt und hatten vor dem VG Berlin einen erfolgreichen Eilantrag auf Vollbeschulung gestellt. Über die Entscheidungsgründe und deren Auswirkungen auf den anstehenden Schulstart hat sich die ESV-Redaktion mit RA Dr. Friedrich Wichert unterhalten.
Herr Dr. Wichert, das VG Berlin hat am 31.05.2021 entschieden, dass einer Grundschülerin und einem Grundschüler der 2. und 4. Klasse Präsenzunterricht erteilt werden muss – und zwar nach den Bestimmungen, die für den Regelschulbetrieb gelten. Warum wollte die Berliner Senatsverwaltung keinen Präsenzunterricht stattfinden lassen?

Dr. Friedrich Wichert: Vor Antragstellung hatte die Senatsverwaltung auf die Notwendigkeit eines organisatorischen und pädagogischen Vorlaufs verwiesen. Das machte sie im Verfahren nicht mehr geltend, sondern führte vielmehr im Wesentlichen an, dass die 7-Tage Inzidenz in der Altersgruppe der Schülerinnen und Schüler weit höher sei als diejenige der Gesamtbevölkerung in Berlin. Sie verwies auch auf die unzureichende Impfung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer.

Und wie hat das VG seine Entscheidung im Kern begründet? Welche Grundrechtspositionen und Interessen der Allgemeinheit stehen sich dabei gegenüber?

Dr. Friedrich Wichert: Das Recht der Antragsteller auf Bildung gemäß Art. 20 der Verfassung von Berlin war abzuwägen gegenüber dem im Infektionsschutzgesetz geregelten Recht der Allgemeinheit auf Eindämmung des Infektionsgeschehens, das letztlich in Art. 2 des Grundgesetzes verankert ist (Schutz der Gesundheit). Nach Auffassung des Gerichts kann der grundgesetzliche Auftrag zum Gesundheitsschutz den Wechselunterricht rechtfertigen. Das sei im Jahr 2021 auch lange Zeit der Fall gewesen.

Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung lag die 7-Tage Inzidenz in Berlin aber bei 32,6 und damit weit unterhalb des Werts, ab dem nach den Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes Wechselunterricht angeordnet werden muss (dieser Wert liegt bei 100, § 28b Abs. 3 IfSG). Zwar seien strengere Maßnahmen der Länder nach § 28b Abs. 5 IfSG zulässig. Je weiter und eingriffsintensiver sich eine landesrechtliche Regelung zum Unterrichtsbetrieb von den bundesrechtlichen Vorgaben (Inzidenzwert 100) jedoch entferne, umso eingehender sei das Begründungserfordernis. Dadurch und durch den fortgeschrittenen Erkenntnisgewinn im Verlauf der Pandemie zu alternativen Schutzmaßnahmen und fortschreitender Impfung und Testmöglichkeiten sei der Einschätzungsspielraum des Verordnungsgebers eingeschränkt.

Die Rechtfertigung durch höhere Inzidenzen bei den Schülern ließ das Gericht nicht zu. Bei dieser Vorgehensweise hätte es, so das Gericht, nahegelegen, nach den einzelnen Bezirken bzw. Schulen zu differenzieren, was der Antragsgegner nicht getan hatte.
 
Eine entscheidende Rolle spielen bei Grundrechtseinschränkungen vor diesem Hintergrund die Zahlen, die das Infektionsgeschehen abbilden. Hierzu zählen etwa die 7-Tage-Inzidenz, die Covid19-Instensivstation-Belegung oder der 4-Tage-R-Wert? Wie hat das VG diese Kennzahlen am Tag der Entscheidung für seine Begründung herangezogen und gewichtet?

Dr. Friedrich Wichert: Für das Gericht kam es auf die gesetzlichen Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes an, nach denen auf die 7-Tage Inzidenz abzustellen ist.

Zur Person
Dr. Friedrich Wichert ist Rechtsanwalt in der Kanzlei WMRC Rechtsanwälte Wichert und Partner mbB und hat die Kinder, die ihre Anträge vor dem VG Berlin gestellt hatten, vertreten.


Welche Rolle spielt der Umstand, dass die Mehrzahl der Kinder – nach bisherigen Studien – einen asymptomatischen oder milden Krankheitsverlauf zeigt? Deutet dieser Umstand nicht auf eine erhöhte verdeckte Ansteckungsgefahr im Schulbereich hin? Hat sich das Gericht hierzu geäußert?

Dr. Friedrich Wichert: Für das Gericht sprach der Umstand, dass die Mehrzahl der Kinder nach bisherigen Studien einen asymptomatischen oder milden Krankheitsverlauf zeigt, eher gegen den Wechselunterricht. Das ist aus meiner Sicht richtig, da Einschränkungen der Kinderrechte in erster Linie zum Schutz der Kinder selbst stattfinden sollten, und nicht um den Schutz der Erwachsenen Willen, die sich ja nunmehr – von wenigen Ausnahmen abgesehen – alle impfen lassen können. Sind die Kinder selbst nicht oder nur geringfügig gefährdet, so müssen sie grundsätzlich nicht in der Hälfte der Schulzeit auf Bildung verzichten. Eine Antragstellerin war 8 Jahre alt und in der 2. Klasse, so dass Fernunterricht via Internet für sie eigentlich nicht in Betracht und einem Bildungsverzicht gleichkam. Das entspricht auch meiner Erfahrung als Vater eines gleichaltrigen Kindes.
 
Auch die – bislang noch immer – unvollständige Impfung der Lehrerschaft spielte eine Rolle in der Argumentation der Senatsverwaltung. Wie hat das Gericht dies gesehen?
 
Dr. Friedrich Wichert: In der bis dahin unvollständigen Impfung der Lehrerschaft sah das Gericht kein durchgreifendes Argument. Zum einen waren zum Entscheidungszeitpunkt bereits 80 Prozent der Grundschullehrerinnen und -lehrer geimpft. Zum anderen hatte die Antragsgegnerin nicht dargelegt, wann mit vollständiger Impfung zu rechnen sei. Insoweit wird auch zu berücksichtigen sein, dass sich einige Lehrerinnen und Lehrer überhaupt nicht impfen lassen wollen. Das kann nicht zu Lasten der Kinder gehen.

Die Berliner Verwaltungsrichter haben die Rückkehr zum Präsenzunterricht auch mit Lockerungen in anderen Bereichen begründet. Was meinen sie damit genau? Verliert man mit dieser Betrachtung die ganz konkrete Gefahrenlage in dem betreffenden Bereich nicht etwas aus dem Blick?

Dr. Friedrich Wichert: Wenn in anderen Bereichen gelockert wird, steigen dadurch naturgemäß die Inzidenzen. Zum Entscheidungszeitpunkt hatte z.B. das Spiel 1. FC Union Berlin gegen RB Leipzig vor 2.000 Zuschauern bereits stattgefunden. Alle Kitas waren wieder offen, ohne Tests und Maskenpflicht.

Solche Lockerungen wirken sich zu Lasten der Schulkinder aus, für die diese Inzidenzen, die im Wesentlichen von Erwachsenen verantwortet werden, darüber bestimmen, ob sie zur Schule gehen dürfen (Schwellenwert 100 nach § 28b Abs. 3 Infektionsschutzgesetz). Freiheit, und dazu gehört auch das Recht auf Bildung, muss gerecht verteilt werden, so dass Lockerungen für alle in gleicher Weise stattfinden müssen.

Die Virusverbreitung lässt sich voraussichtlich nicht vollständig eindämmen. Der Staat kann hier steuern. In den Kitas hat die Senatsverwaltung bewusst konkrete Gefahrenlagen zugelassen, nach meiner Einschätzung um die Werktätigkeit der Eltern der besonders betreuungsintensiven Kita-Kinder nicht weiter einschränken zu müssen. Dann hätte man besser die Kitas zugelassen, um den Schulkindern das Lernen zu ermöglichen. Die Virusverbreitung hätte sich dann in den Schulen statt in den Kitas abgespielt.
 
In den Schulen konnte man nach meiner Einschätzung sogar mit einer geringeren konkreten Gefahrenlage rechnen: Schulkinder wurden mindestens zweimal in jeder Woche des Schulbesuchs auf Corona getestet und mussten im Unterricht und auf dem Pausenhof Masken tragen (wogegen sich die Antragsteller auch gar nicht wandten, sie machten das ganz selbstverständlich). Bei Kita-Kindern ist eine Maskenpflicht nicht realistisch. Warum hier auf Corona-Tests verzichtet wurde, leuchtet mir immer noch nicht ein.

Das Recht auf Bildung wiegt höher als die Erwerbsinteressen der Eltern der Kita-Kinder. Spätestens als Rentner werden wir das merken, wenn die heutigen Schulkinder nämlich unsere Rente zahlen müssen. Dazu müssen sie über ausreichend Bildung verfügen. Die 8-jährige Antragstellerin war im März 2020 in der ersten Klasse, so dass sie noch kein „normales“ Schuljahr erlebt hat: Im Jahr 2020 waren die Schulen vom 17. März bis Ende Mai geschlossen, danach fand Wechselunterricht statt. Vom 16. Dezember 2020 bis zum 22. Februar 2021 waren die Schulen wieder geschlossen, danach fand bis zum 09. Juni 2021 Wechselunterricht statt. Wie sollen die Kinder so das Lernen erlernen? Hierzu gehört nach meiner Auffassung die Erfahrung, dass man täglich in die Schule gehen muss. Der Umgang mit den Freiheiten des Home-Office fällt schon vielen Erwachsenen schwer. Kinder, gerade Grundschülerinnen und Grundschüler, sind damit nach meiner Einschätzung in der Regel überfordert. 

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Noch am Abend der Beschlussverkündung kündigte die Berliner Senatsverwaltung die Wiederaufnahme des Regelbetriebs zum 09. Juni 2021 an. Warum hat die Senatsverwaltung nach Ihrer Einschätzung nicht das OVG Berlin-Brandenburg angerufen?

Dr. Friedrich Wichert: Das kann ich als Vertreter der Gegenpartei nicht sagen. Aus meiner Sicht war der Beschluss gut begründet, so dass die Anrufung des OVG womöglich vergeblich gewesen wäre und noch mehr politischen Wirbel verursacht hätte. Innerhalb der Koalition waren die Beendigung des Wechselunterrichts und der Wiedereinstieg in den Präsenzunterricht zum Entscheidungszeitpunkt ja strittig.

Ihr Ausblick: Die Schule ist nach den Sommerferien in Berlin am 09.08.2021 wieder gestartet. Zwar sind vor allem die Inzidenzzahlen momentan verhältnismäßig niedrig. Die vermehrte Ausbreitung der Delta-Variante lässt aber einen Anstieg erwarten. Dann sind neue Rechtsstreitigkeiten zu erwarten. Kann die Entscheidung des VG Berlin dann richtungsweisend sein oder gar eine Signalwirkung haben?

Dr. Friedrich Wichert: Das hoffe ich! Weitere Varianten werden hinzukommen, Gamma, Lambda usw. Damit werden wir leben und Lösungen finden müssen, die alle zufrieden machen, auch die Kinder! Dazu wird auch gehören, dass sich die Schulverwaltungen rechtzeitig auf die Situation einstellen. Ich bin neugierig, ob die Schulverwaltungen den Sommer hierzu genutzt haben, z.B. zur Anschaffung von Luftfiltern. Versäumnisse der Schulverwaltungen können sich nicht wieder zu Lasten der Kinder auswirken.

Quellen u.a. : PM des VG Berlin vom 31.05.2021 zum Beschluss der 3. Kammer des VG Berlin vom 31. Mai 2021 (VG 3 L 180/21)


Corona im Rechtsstaat

Wer hätte sich vor Corona vorstellen können, es schon bald mit Grundrechtseingriffen zu tun zu bekommen, die es zumindest im Westen Deutschlands so seit 1949 nicht gab? Oder wie schnell sich das gesamte gesellschaftliche Leben herunterfahren lässt? Zu schnell? Bleiben in der Krise Bürgerrechte und der Rechtsstaat auf der Strecke?

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(ESV/mb/bp)

Programmbereich: Staats- und Verfassungsrecht