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Wie lernen wir lesen und schreiben? (Foto: Albina Glisic / stock.adobe.com)
Materialität des Schrifterwerbs

Rechtschreibung lernen leicht gemacht

ESV-Redaktion Philologie
21.07.2021
Richtig schreiben lernen, das verbinden viele mit stumpfem Auswendiglernen von Rechtschreibregeln. Doch spielen auch andere Faktoren eine Rolle?
In dem neuen Sammelband „Materialität des Schrifterwerbs“, herausgegeben von Norbert Kruse, Anke Reichardt und Susanne Riegler, werden das Lesen- und Schreibenlernen genauer unter die Lupe genommen. Lesen Sie hier einen Auszug aus Norbert Kruses Beitrag, in dem er verschiedene Herangehensweisen an den Schriftspracherwerb erläutert:  

Linguistisch-grammatische Arbeitsrichtung

Ursula Bredel konstatiert für die Schriftspracherwerbsforschung „konzeptionelle Verschiebungen […] von rein psychologischen oder pädagogischen hin zu sprachsystematischen Fragestellungen“ (Bredel 2020a, 86). Diese Entwicklung ist aus Bredels Sicht sinnvoll und richtig. Allerdings konnten, wie Bredel schreibt, empirische Studien bisher noch nicht überzeugend nachweisen, dass „ein schriftsystematischer Zugang wirklich lernförderlich(er) ist […]“ (ebd.). […] Einen starken Grund für die mangelnde Wirksamkeit vermutet Ursula Bredel darin, dass „schriftsystematische Zugänge von Lehrkräften nicht oder nicht systematisch umgesetzt werden [können]“ (ebd.). Demgegenüber dominierten in den Überzeugungen von Lehrkräften, so Bredel, traditionelle und hochproblematische Wissensbestände über den Gegenstand Schriftsprache, wonach etwa die Orthografie ein willkürliches Regelwerk sei, genährt auch von entsprechenden „Ressentiments“ der „Gesellschaft“ der Rechtschreibung gegenüber (vgl. ebd.). Pointiert formuliert Bredel an anderer Stelle: „Was hier [nämlich bei der Rechtschreibung, NK] eventuell nach Willkür aussehen mag, ist hochsystematisch, gut beschreibbar […] und – bei angemessener Aufbereitung – gut lernbar“ (Bredel 2020b, 11). Denn auch zur Lernbarkeit sei die falsche Auffassung verbreitet, dass „Orthographie […] über Regelwissen und Regelanwendung gelernt [werde]“ (Bredel 2020a, 91). Vor allem Graphematik, Phonologie und Morphologie als Teilgebiete der Linguistik haben in dieser Arbeitsrichtung eine leitende Bedeutung zur Modellierung geschriebener Sprache im Unterricht. […] Diese Ausrichtung der Schriftspracherwerbsforschung könnte man als linguistisch-grammatische Arbeitsrichtung bezeichnen.

Psychologisch-anthropologische Arbeitsrichtung

Das Gegenmodell zur linguistisch-grammatischen Arbeitsrichtung findet sich in einer Ausrichtung der Schriftspracherwerbsforschung, die auf die freie und kreative Entfaltung kindlicher Subjektivität setzt. Hier sind es nun in der Theorie psychologisch-anthropologische Grundannahmen, die im Unterricht so „umgesetzt“ werden müssen, dass die Kinder in ihrer freien Entfaltung nicht eingeschränkt werden. Diese Ausrichtung der Schriftspracherwerbsforschung könnte man deshalb als psychologisch-anthropologische Arbeitsrichtung bezeichnen. Bei Falko Peschel beispielsweise wird deutlich, dass die „Normen“ der Alphabetschrift ohne Selbstbestimmung und Selbststeuerung der Kinder nicht in den Horizont des Kindes geraten können […]. Entscheidend sei, so Peschel, das „implizite Lernen durch die selbstgesteuerte Begegnung mit Rechtschreibung […]: Auf der einen Seite durch das eigene Konstruieren und Austesten rechtschriftlicher Strukturen, auf der anderen Seite durch die wiederkehrende Begegnung mit den in diesem Bereich herrschenden Normen“ (Peschel 2015, 74). Belegt wird die Lerntheorie der Selbststeuerung mit der Selbstbestimmungstheorie der Motivation nach Deci und Ryan (1993). Danach „gibt es drei angeborene psychologische Bedürfnisse, die für echtes Lernen im Sinne einer langfristigen Verhaltensänderung relevant sind: das Bedürfnis nach Kompetenz oder Wirksamkeit, das Gefühl von Autonomie oder Selbstbestimmung und die soziale Eingebundenheit“ (Peschel 2015, 73 f.). Auch Ivonne Wiemer und Michael Hüttenberger berufen sich zum Beleg des Reichen-Konzepts zum selbstgesteuerten Lesen […] auf anthropologische Grundannahmen und verweisen etwa auf die pädagogische Anthropologie von Heinrich Roth (1971) […] oder auf Jürgen Reichen selbst, der formuliert, „dass jedes Kind neugierig und lernwillig in die Schule kommt und ‚wenn man es richtig anregt und anleitet, dem eigenen Interesse folgend und dem Entwicklungstempo gemäß sich den notwendigen Lernstoff von selbst erarbeiten wird‘ (Reichen 2004, 29)“ […]. In dieser Arbeitsrichtung, so lässt sich verallgemeinern, ist der Unterricht gleichsam schon in der psychischen und gesellschaftlichen Verfasstheit von Kindern angelegt, muss aber durch Anregungen und Anleitungen ebenfalls „umgesetzt“ werden.

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Materialität des Schrifterwerbs
Herausgegeben von: Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler

Die Materialität des Schrifterwerbs im Elementarbereich und in der Grundschule ist Gegenstand der Beiträge dieses Sammelbandes. Im Mittelpunkt stehen Beobachtungen zu literalen Praktiken und didaktischen Arrangements in alltäglichen Lernsituationen und die damit verbundene Dynamik, Sozialität und Körperlichkeit. Indem die vorfindlichen Praktiken des Schrifterwerbs in kulturwissenschaftlich-praxeologischer Ausrichtung in den Blick genommen und auf ihre Sinnhaftigkeit für die Erweiterung literalen Handlungsvermögens untersucht werden, tragen die Autorinnen und Autoren zu einer Erweiterung der bisherigen Forschungsperspektiven auf das Lesen- und Schreibenlernen am Schulanfang bei.
Im Mittelpunkt steht das Beschreiben und Verstehen des literalen und sprachlichen Unterrichts am Schulanfang, seine praktischen Ausformungen und die Widersprüche, die dabei sichtbar werden. Der Anspruch dieses Sammelbandes ist damit zugleich bescheiden und herausfordernd: bescheiden, insofern die Probleme der gegenwärtigen Forschung zum Schriftspracherwerb benannt und beschrieben werden, herausfordernd, weil es dazu adäquater methodologischer Perspektiven bedarf, denen es gelingt, den Schriftspracherwerb als institutionsgebundenes Phänomen zu fassen.
Kurz- und mittelfristig geht es um ein deutschdidaktisches Forschungsprogramm, das herausarbeiten kann, wie die Praktiken des Unterrichts zum Schriftspracherwerb an der Bildungsbenachteiligung von Kindern in Deutschland beteiligt sind und den Zusammenhang von Schulerfolg und sozialer Herkunft reproduzieren.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik