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Scheinbar idyllische Landschaften sind in der literarischen Fantastik oft das Eingangtor zum Unheimlichen (Foto: Patryk Kosmider – stock.adobe.com)
Auszug aus: „Fantastik in Literatur und Film“

Reisen in unbekanntes und gefährliches Territorium schaffen den narrativen Raum für das Fantastische

ESV-Redaktion Philologie
08.09.2022
In den letzten Jahrzehnten führten fantastische Erzählungen immer wieder zu einem regelrechten Hype in der Populärkultur, wie die Game of Thrones oder die Harry Potter-Bücher und -Filme zeigen. Infolge der Game of Thrones-Serie entstand sogar ein Film-Tourismus zu den Drehorten, unter anderem in Neuseeland und Kroatien; Harry Potter- Fanartikel wie Hogwarts-Schals, „zaubernde“ Tassen und sogar Tattoos von den „Heiligtümern des Todes“ sind allgegenwärtig.
Fantastik ist allerdings keine Erfindung der Neuzeit, sondern ein Merkmal zahlreicher klassischer Texte, man denke nur an Homers Odyssee, an die Erzählungen von E.T.A. Hoffmann oder Bram Stokers Dracula. Fantastische Literatur ist nicht zuletzt deshalb zeitlos, weil menschliche Urängste behandelt und verarbeitet werden. Die Behandlung fantastischer Texte im Unterricht ist daher sehr lohnenswert.

In Prof. Dr. Ulf Abrahams Buch „Fantastik in Literatur und Film“ werden verschiedene Perspektiven auf das Konzept der Fantastik dargestellt, sowohl literatur- und kulturwissenschaftliche als auch mediendidaktische. Schlüsseltexte verschiedener Genres werden behandelt, um einen ersten Einblick in das Forschungsfeld zu geben. Das Buch macht darüber hinaus konkrete Vorschläge, wie fantastische Literatur und Filme in didaktische Planungen im Unterricht integriert werden kann.

Die neu bearbeitete Auflage wurde um Bibliographien, aktuelle Diskussionen und einige Titel ergänzt. Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Buch:

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Leitmotive: Reisen, Räume, Träume

„Wir wussten nichts von den Ameisen, als wir hierher zogen. Es schien, dass wir uns hier wohl fühlen würden. Der Himmel und das Grün waren heiter, vielleicht allzu heiter für die Sorgen, die wir hatten, ich und meine Frau, wie konnten wir etwas von den Ameisen ahnen?“

Die Literarische Fantastik lebt, wie das Beispiel von Italo Calvinos Erzählung Die argentinische Ameise in besonderer Dichte zeigt, von Leitmotiven, die nicht selten kombiniert auftreten. Seit Homers Odyssee, neu erzählt von SF/Fantasy-Autor Wolfgang Hohlbein (1997), sind es Reisen in unbekanntes und gefährliches Territorium, die den narrativen Raum schaffen für das Fantastische. Schon bei Homer verwandeln sich idyllisch einladende Landschaften, die auf den ersten Blick Nahrung und Schutz versprechen, mit grauenhafter Plötzlichkeit in Horte des Horrors: In der Fremde zu landen und nicht zu wissen, wovon sie bevölkert ist, entspricht einer anthropologischen Urangst. Ihre Darstellung funktioniert literarisch seit Jahrtausenden; selbst im 21. Jahrhundert gibt es, etwa im Amazonas-Dschungel, noch weiße Flecken auf der Weltkarte, die sich dafür anbieten. So schildert Isabel Allende (*1942) in Die Stadt der wilden Götter (2001/2002) in der Tradition des Magischen Realismus eine Expedition, bei der eine Enklave urzeitlicher „Tiere“ von beträchtlicher Intelligenz entdeckt wird. Die Denkmöglichkeit nichtmenschlicher Intelligenz, im SF-Genre extraterrestrisch verortet (womit sich interstellare Räume erschließen), ist ein mächtiges Antriebsmoment für die Literarische Fantastik. Aber auch Barbarei wird seit alters her in der Fremde vermutet; noch Franz Kafka lässt In der Strafkolonie (1919) einen Reisenden auf eine haarsträubende Exekutionsmethode stoßen, die weit hinter die Aufklärung zurückfällt.

Das Motiv der Reise, das die Geschichte der Fantastik seit der Antike begleitet, führt also zu unerforschten, in manchen Spielarten der Fantastik von gefährlichen Wesen bevölkerten Räumen. Was den Held/-innen in oder aus ihnen entgegentritt, wirkt nicht selten wie geträumt; eine auf den ersten Blick heimelige oder doch harmlose Gegend entpuppt sich als böse Traumlandschaft, die wie eine Heimsuchung über die Menschen kommt und aus der es kein Erwachen gibt. Auch Dahlmann, der Held von Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Süden (1941), will eigentlich nur mit dem Zug zu seinem Landbesitz hinausfahren, auf dem er lange nicht gewesen ist, und muss nach einer unverständlichen Ansage des Zugschaffners vorzeitig auf einem Bahnhof aussteigen, den er nicht kennt. Er landet in einer nicht sehr vertrauenerweckenden Dorfwirtschaft, wo er etwas zu Essen bestellt, um das Eintreffen einer Droschke abzuwarten, die er für die Weiterfahrt bestellt hat. Dazu kommt es aber nicht mehr; eine Gruppe angetrunkener Jugendlicher beschießt ihn zunächst mit Brotkügelchen und beginnt dann mit einer lautstarken Beschimpfung, die mit gezückten Messern endet. Obwohl oder gerade weil der Wirt ihn beschwört, auf die Provokation nicht einzugehen, ist Dahlmann, der vom Wirt unerklärlicherweise mit seinem Namen angeredet wird, jetzt überzeugt davon, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich dem Zweikampf zu stellen. Ein heruntergekommener alter Mann, der bis dahin apathisch am Boden gehockt hat, wirft ihm ohne Vorwarnung einen blanken Dolch zu; die Erzählung endet damit, dass Dahlmann den Jugendlichen in ein unbekanntes und bedrohliches Draußen folgt.
Nachgefragt bei: Professor Dr. Ulf Abraham 13.09.2022
„Es geht um die Nutzung der lebenswichtigen Ressource Imagination: uns die Welt anders vorzustellen, als sie ist.“
Fantastisch! Im Oktober erscheint nun – nach 10 Jahren – die zweite Auflage des Buches „Fantastik in Literatur und Film“ von Prof. Dr. Ulf Abraham im ESV. Die erste Auflage aus dem Jahr 2012 wurde in der neuen Bearbeitung durch aktuelle Diskussionen, Bibliographien und neue Titel ergänzt. In dem Buch werden verschiedene Perspektiven auf das Konzept der Fantastik dargestellt, sowohl literatur- und kulturwissenschaftliche als auch mediendidaktische. Nicht nur für Studierende der Germanistik, sondern auch für Fantastik-Interessierte und Lehrende an (Hoch-)Schulen ist dieses Buch eine Bereicherung. mehr …

Räume, die unerhörte oder unheimliche Möglichkeiten bergen, werden in der Fantastik bis zum 17. Jahrhundert meist im Rahmen von Reiseerzählungen entworfen, so in Morus’ Utopia oder in Swifts Gulliver: Der Leser nimmt an der Überfahrt oder Anreise teil und wird auf diese Weise allmählich aus der ihm bekannten Welt heraus und in einen fantastischen Raum versetzt. Die damit entstehende Raumutopie gehört in eine historisch abgeschlossene Phase. Jüngere Beispiele wie Stokers Dracula oder Kubins Die andere Seite, die noch um die Wende zum 20. Jahrhundert eine solche Anreise ins Fantastische schildert, sind ausgesprochen selten; zu gut bekannt ist dem Lesepublikum mittlerweile die Weltkarte. Man muss schon wie Jules Verne in die Tiefen des Meeres ausweichen, um noch unentdeckte Räume literarisch besetzen zu können. Die fantastische Reiseerzählung, wo sie weiterlebt, büßt ihre utopische Qualität ein und wird immer mehr zum Horrorszenario, wie z.B.
das in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie bereiste unbekannte Land. Häufiger ist seit dem 19. Jahrhundert ohnehin die Zeitutopie, die die Möglichkeit bietet, Zukünftiges literarisch zu imaginieren, und zwar entweder von einem Punkt in der Vergangenheit (z.B. in Washington Irvings früher Kurzgeschichte Rip van Winkle) oder als ein Weiterdenken und Verändern der Gegenwart, wie es schon 1771 Louis-Sebastién Mercier in Das Jahr 2440 erprobt hat. Auch die fantastische Zeitreise aber lässt das Utopische hinter sich; ein Text wie Die Zeitmaschine demontiert es förmlich: Unter der Idylle, in der die Eloi zu leben scheinen, haust das Grauen. Nur in der KJL sowie im all-age-Genre der Fantasy werden auch im 20. Jahrhundert weiterhin Räume narrativ gestaltet, die in manchem an Utopien erinnern, etwa Tolkiens „Auenland“ oder das Reich des Zauberers von Oz. Auch hier müssen die Helden und Heldinnen aber vorsichtig sein: Es gibt, nicht anders als bereits bei Homer, schreckliche Wesen, die solche Welten bedrohen. Das gilt nicht nur für die von der Jetzt-Zeit völlig abgekoppelte Fantasy, sondern auch für Räume, die in der Zwei-Welten-Fantastik der KJL durch Tore, Türen oder Durchlässe anderer Art betreten werden.

Träume schließlich stehen in Zusammenhang mit imaginierten Reisen durch Raum und Zeit – man schläft ein und erwacht irgendwo oder irgendwann anders. Die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Traum ist selbst ein Thema der Fantastik, exemplarisch behandelt in Paul Maars Lippels Traum (1984). Wenn in diesem Abschnitt einige prominente Leitmotive der Fantastik behandelt worden sind, so ist dies nur eine ganz kleine Auswahl. Jedem Leser der im Primärtextverzeichnis ausgewiesenen Werke werden weitere auffallen, etwa das Inzestmotiv, das ebenfalls seit der Antike die Fantastik durchzieht.

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Wenn Sie gern weiterlesen möchten, empfehlen wir Ihnen das Buch „Fantastik in Literatur und Film“ von Ulf Abraham: Sie können es hier oder in der Buchhandlung Ihres Vertrauens bestellen.

Zum Autor
Professor Dr. Ulf Abraham lehrt Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und gehört zu den derzeit bekanntesten Deutschdidaktikern. Er ist (Co-)Autor von Standardwerken der Literatur- und Schreibdidaktik. Einer seiner Schwerpunkte ist die Literatur und ihre Medien (bes. Film) in fachdidaktischer Perspektive.


Fantastik in Literatur und Film
Eine Einführung für Schule und Hochschule

Von Ulf Abraham

Grundlagen der Gemanistik, Band 50

Das Buch stellt erstmals in einer medien- und rezeptionsorientierten Perspektive Geschichte und Gegenwart des Fantastischen in der abendländischen Literatur dar.
Es bietet damit auf überschaubarem Raum eine Einführung, die im Unterschied zu vorliegenden Spezialstudien über einzelne fantastische Genres die Herkunft und Entwicklung fantastischer Motive und Traditionsstränge an breit gestreuten Schlüsseltexten vieler Genres umfasst. Der Schwerpunkt liegt auf Texten und Adaptionen, die im Unterricht sowie in der Lehrer/-innenausbildung vorkommen.
Ohne die Vielgestaltigkeit der Tradition des Fantastischen unzulässig zu verkürzen, werden Linien ausgezogen, die von Homers „Odyssee“ bis ins 21. Jahrhundert reichen. Vorschläge für einen Einbezug der Fantastik in Literatur und Film in die Hochschullehre und den (Deutsch-)Unterricht werden so grundsätzlich wie nötig und so konkret wie möglich formuliert. Die vorliegende neu bearbeitete Auflage bezieht aktuelle Tendenzen sowohl der Fantastik selbst als ihrer Vermittlung im Unterricht ein.

„Ein besonders vielschichtiges und informatives Buch!“ (In: www.derlehrerclub.de, 8.5.2015)


(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik