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Dr. Anna Richter: Universitätsdozentin in Argentinien (Foto: privat)
Nachgefragt bei: Dr. Anna Richter

Richter: „Ein guter Test für die Vereinbarkeit einer Rechtsordnung mit dem Liberalismus“

ESV-Redaktion Philologie
19.05.2020
Gedanken zu Recht und Gerechtigkeit hat sich sicher fast jede/r schon einmal gemacht. Dabei wird von den meisten sicherlich vorausgesetzt, dass wir in einem liberalen Staat leben. Doch äußert sich dies auch tatsächlich bei der Strafverteidigung?
Dieser Frage geht Dr. Anna Richter in ihrem Werk „Strafverteidigung und Liberalismus“ nach. Darin untersucht sie die Rechtsordnungen von Deutschland und Argentinien hinsichtlich der Rolle der Strafverteidigung.
Lesen Sie im Interview mit der Autorin, wie viele verschiedene Aspekte hinter dieser Fragestellung stehen.

Liebe Frau Richter, bei Ihrem Buch handelt es sich um eine Doppelpromotion an einer deutschen und einer argentinischen Universität. Sie selbst leben nun in Argentinien. Wie kam es zu der Idee, gerade die Rechtsordnungen der beiden Länder zu vergleichen?

Anna Richter: Als ich gerade auf der Suche nach einem Promotionsthema war, hat mir ein argentinischer Kollege erzählt, dass die Strafverteidigung in Argentinien ganz anders ausgestaltet ist als in Deutschland. Sein Kommentar hat nicht nur meine Neugierde geweckt, diese Unterschiede zur deutschen Strafverteidigung genauer zu untersuchen, sondern hat mir auch den Ausgangspunkt für ein Promotionsthema gegeben, bei dem ich meine drei Interessen, das Strafrecht, die Rechtsvergleichung und die spanische Sprache verbinden konnte.

Als ich dann begann, die Verteidigerfiguren beider Rechtsordnungen ausführlicher zu betrachten, habe ich gemerkt, dass der Vergleich gerade dieser beiden Rechtsordnungen in mehrfacher Hinsicht reizvoll ist.  So gibt es im materiellen Strafrecht einen regen Austausch zwischen Argentinien und Deutschland.

Im Strafprozessrecht gibt es hingegen kaum Gedankenaustausch zwischen beiden Ländern, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass das argentinische Strafprozessrecht eher an der italienischen Strafprozessordnung ausgerichtet ist und nicht an der deutschen. Dennoch sind die Grundstrukturen der deutschen und argentinischen Strafprozessordnung sehr ähnlich. Trotz dieser Ähnlichkeiten im Strafprozess weichen die Rechte und Pflichten des Strafverteidigers in beiden Ländern in wesentlichen Punkten voneinander ab. Diese gleichzeitige Nähe und Distanz zwischen dem deutschen und argentinischen Strafverfahren fand ich spannend.

Sie haben geschrieben, dass Deutschland und Argentinien ähnliche Rechtsordnungen haben, dass diese sich aber auch in mancher Hinsicht unterscheiden. Welche Rolle spielt die Geschichte eines Landes bei der Entstehung seiner Rechtsordnung?

Anna Richter: Ich bin keine Rechtshistorikerin, deswegen kann ich diese Frage nur ganz oberflächlich und nur bezogen auf die Figur des Strafverteidigers beantworten. Für die Strafverteidigung kann ich keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben. In Deutschland wurde die Strafverteidigung tatsächlich von historischen Ereignissen beeinflusst. So haben die sogenannten „RAF-Prozesse“ der 70er Jahre die deutsche Gesetzgebung zur Strafverteidigung stark geprägt und zur Einführung von bis heute bestehenden Beschränkungen der Rechte des Beschuldigten und seines Verteidigers geführt.

Für die argentinische Rechtsordnung konnte ich hingegen keine Hinweise finden, dass der dort bestehende größere Schutz des Bürgers im Rahmen der Strafverteidigung von spezifischen historischen Ereignissen beeinflusst wurde.

Auszug aus: Strafverteidigung und Liberalismus 04.05.2020
Ein Blick über den Tellerrand hinaus
Oft helfen Vergleiche mit anderen Ordnungen, das eigene System besser einzuschätzen. Das gilt auch für Rechtssysteme. Dass es für ähnliche Voraussetzungen unterschiedliche Lösungen gibt, schärft den Blick für Besonderheiten. Welche Eigenheiten gibt es etwa in Bezug auf die Verteidigerstellung in einem Rechtssystem? Wie kann man gute Anwältinnen oder Anwälte in einem Strafverteidigungsprozess auf Grundlage der Rechtsordnung einsetzen? Steht unsere Rechtsordnung überhaupt in Einklang mit einem liberalen Staat? mehr …

Was brachte Sie auf die Idee, explizit anhand der Rolle des Strafverteidigers den Liberalismus eines Staates zu untersuchen?

Anna Richter: Im Liberalismus geht es grundsätzlich darum, den Bürger vor zu vielen Eingriffen anderer, seien es Mitbürger oder der Staat, zu schützen. Die gravierendsten Grundrechtseingriffe finden regelmäßig im Rahmen des Strafrechts statt, wie zum Beispiel Hausdurchsuchungen, Freiheitsbeschränkungen oder das Verbot, bestimmte Berufe auszuüben. Damit muss der Beschuldigte gut gegen die Staatsmacht geschützt werden, was zum großen Teil durch die Figur des Strafverteidigers geschieht.

Zu untersuchen, welche Rolle dem Strafverteidiger zukommt und inwieweit seine Rechte und Pflichten mit liberalen Idealen in Einklang zu bringen sind, erschien mir daher ein guter Test für die Vereinbarkeit einer Rechtsordnung mit dem Liberalismus. Dass die verschiedenen Strömungen des Liberalismus dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, was die Übereinstimmung einer bestimmten Rechtsordnung mit liberalen Prinzipien anbelangt, finde ich einen besonders interessanten Aspekt dieser Untersuchung. Es zeigt, dass es keine universale Antwort darauf gibt, wie eine bestimmte Gesellschaft organisiert sein muss, um liberalen Grundsätzen zu entsprechen, zum einen, weil jede Gesellschaft ihre eigenen Besonderheiten aufweist und zum anderen, weil es nicht nur einen einzigen Liberalismus gibt.

Ihre Arbeit kann sicher auch als Beitrag zur Förderung eines internationalen Dialogs verstanden werden. Was können die beiden Länder Deutschland und Argentinien vielleicht voneinander lernen?

Anna Richter: Für Deutschland ist im Rahmen der Strafverteidigung eine großzügigere Anwendung der notwendigen Verteidigung denkbar, denn hier wird – im Gegensatz zu Argentinien – die notwendige Verteidigung nur ausnahmsweise angeordnet, wenn der jeweilige Fall in bestimmter Weise von der Norm abweicht. Die Einführung einer grundsätzlich notwendigen Begleitung durch einen Rechtsbeistand könnte einen besseren Schutz des Beschuldigten im Strafverfahren sicherstellen, was für das deutsche Strafprozessrecht insbesondere dann Relevanz erlangt, wenn man an die Ausweitung der Befugnisse der Strafverfolgung auch und gerade in europaweiten Verfahren denkt.

Für die argentinische Strafrechtsordnung kann hingegen die Durchführung der Pflichtverteidigung durch private Strafverteidiger ein überdenkenswerter Impuls sein, denn dort wird die Pflichtverteidigung von einer staatlichen Pflichtverteidigungsinstitution durchgeführt, die räumliche und institutionelle Nähe zur Staatsanwaltschaft und den Gerichten aufweist, was unter Umständen zu Konflikten mit den Beschuldigteninteressen führen kann.

Ihre Untersuchung behandelt auch politische Aspekte. Könnten Sie sich vorstellen, dass Ihr Buch auch von Nicht-Juristen gelesen wird?

Anna Richter: Das Buch ist sicherlich für all jene interessant, die sich fragen, auf welchen Grundlagen unsere gesellschaftlichen Institutionen aufgebaut sind und inwieweit diese Prinzipien mit den Ansprüchen bestimmter politischer Theorien vereinbar sind. Wenn wir über die Ausgestaltungen von juristischen Einrichtungen wie der Strafverteidigung diskutieren, dann ist das nur auf einer Ebene eine juristische Diskussion.

Dahinter steht immer auch eine politische und philosophische Dimension, in der sich die Frage stellt, was für eine Art von Staat wir wollen und wie die Beziehung zwischen diesem Staat und dem Bürger ausgestaltet sein sollte. Soll der Staat den Bürger vor möglichen Gefahren schützen, oder davon ausgehen, dass dieser auch ohne paternalistische Eingriffe rationale Entscheidungen fällen kann? Welche Fähigkeiten sollen bei einem durchschnittlichen Bürger vorausgesetzt werden?

All diese Überlegungen prägen das Verhältnis von Staat und Bürger und bestimmen, welche Gestalt die staatlichen Einrichtungen annehmen sollen. In meiner Arbeit habe ich versucht, diese hinter der Strafverteidigung stehenden Grundprinzipien offenzulegen und zu hinterfragen, ob sie mit liberalem und republikanischem Gedankengut vereinbar sind.

Zur Autorin
Dr. Anna Richters Interesse für das Strafrecht und ausländische Rechtsordnungen wurde bereits während ihres Jurastudiums in München und Toledo/Spanien geweckt und hat sich durch ein LL.M. in Genua sowie eine Doppelpromotion in München und Córdoba/Argentinien vertieft. Sie ist Universitätsdozentin in Argentinien und beschäftigt sich mit Forschungsthemen an der Schnittstelle zwischen dem Strafrecht, der Rechtstheorie und politischen Theorien.

Strafverteidigung und Liberalismus
von Dr. Anna Richter

Sind unsere Rechtsordnungen tatsächlich mit dem Liberalismus in Einklang zu bringen, wie so oft behauptet wird? Wie müsste ein Rechtsstaat aussehen, der auf liberale Grundlagen gestützt wird? Diesen Fragen wird hier anhand der Institution der Strafverteidigung nachgegangen. 

In einem ersten Schritt stellt die Autorin die zu dieser Figur bestehenden Regelungen in Deutschland und Argentinien vor und vergleicht sie miteinander. Danach wird analysiert, inwieweit die in beiden Ländern vorgefundenen Argumentationswege und Prinzipien, auf die die jeweiligen Verteidigungseinrichtungen gestützt werden, mit liberalen Grundsätzen (Libertarismus nach Nozick, egalitärer Liberalismus nach Rawls, Republikanismus nach Pettit) in Einklang gebracht werden können.

Die Arbeit bietet einen einzigartigen Einblick in die Institution der Strafverteidigung in Argentinien und Deutschland. Auf der Grundlage von strafrechtsdogmatischen Einblicken und den im Rechtsvergleich analysierten Vorzügen und Nachteilen der Verteidigungslösungen beider Länder entwickelt die Autorin sodann eine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage, wie die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Strafverteidigung mit verschiedenen Ausprägungen des Liberalismus vereinbar sind.

Programmbereich: Rechtsgeschichte