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Vom Buch zum Film und in die Schule: Konzepte für den Unterricht. (Foto: Oes – stock.adobe.com)
Filmdidaktik Deutsch

Rico, Oskar und die Tieferschatten: Ein Kinderfilm im Deutschunterricht

ESV-Redaktion Philologie
23.04.2021
Viele Deutschlehrende stehen täglich vor der Frage, wie sie ihren Schülerinnen und Schülern Literatur nahebringen können. Eine Möglichkeit ist, sich nicht nur mit dem Buch, sondern auch mit der entsprechenden Literaturverfilmung zu beschäftigen. Über einen Vergleich der beiden Medien Literatur und Film erschließen sich ganz andere Themen und nicht zuletzt das Verständnis für verschiedene Erzählformen.
In unserer neuen Einführung Filmdidaktik Deutsch geben Ingo Kammerer und Klaus Maiwald in diesem Kontext zahlreiche nützliche Praxisvorschläge. Unter anderem behandeln sie die Verfilmung des Kinderbuchklassikers „Rico, Oskar und die Tieferschatten“. Lesen Sie hier einen Ausschnitt.

Einen Kinderfilm erschließen:  Rico, Oskar und die Tieferschatten



Der Film und das Buch

Rico, Oskar und die Tieferschatten von Neele Vollmar (2014) handelt von zwei ungleichen Freunden, die nach einer aufregenden Ermittlung einen Kidnapper überführen. Die Story folgt eng der des gleichnamigen Romans von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 2008, dennoch geht der Film eigene und gelungene Wege. Bei der inhaltlichen Erschließung der prägenden Themen und Motive wie Behinderung und Freundschaft ist daher auch besondere Aufmerksamkeit auf die filmische Konstruktion zu richten. Diese Aufmerksamkeit kann im Vergleich mit dem Buchmedium zusätzlich geschärft werden.

Rico ist ein lernbehinderter Junge, der mit seiner Mutter in einem Mietshaus in Berlin lebt. Eines Tages trifft der fröhliche, zupackende, sich selbst „tiefbegabt“ nennende Rico auf sein genaues Gegenteil: Oskar ist hochbegabt und angefüllt mit Wissen, zugleich ängstlich und zaghaft. Die ungleichen Jungen freunden sich an und nehmen die Fährte eines Kindesentführers auf. Als dann Oskar selbst entführt wird, fahndet Rico auf eigene Faust nach dem Freund. Die Spur führt hinaus ins weite Berlin zu einem Mädchen namens Sophia und zurück ins Hinterhaus, wo der Entführer und seine Opfer die geheimnisvollen, von Rico so genannten Tieferschatten verursacht haben. Nach einem turbulenten Showdown wird Oskar befreit und der Entführer zur Strecke gebracht.

Filmische Darstellung

Der Film besticht neben der Leistung der kindlichen Hauptdarsteller (Anton Petzold, Juri Winkler) durch renommierte Schauspieler*innen wie Karoline Herfurth und Ronald Zehrfeld, mit Katharina Thalbach, Ursela Monn, Axel Prahl, Milan Peschel, David Kross und Anke Engelke in Nebenrollen. Im Ganzen konventionell erzählt, zeigt der Film immer wieder besonders Gelungenes in der Gestaltung.
 
Die Bingotrommel

a) Bereits im Vorspann und zu Beginn kann ein Film viel über sich sagen, viel gewinnen oder verlieren. Die Titelsequenz und der Beginn von Rico, Oskar und die Tieferschatten sind in vielfacher Hinsicht gelungen: Zunächst läuft ein Animationsfilm, in dem eine nächtliche Explosion als point-of-attack sogleich für Aufregung und Spannung sorgt. Der Zwischentitel „Ungefähr viele Jahre später“ fügt eine komische Note bei und deutet bereits Ricos Denkprobleme an. Von einem establishing shot wechseln wir in die Perspektive einer Kinderfigur, die von einer weiblichen Stimme zum Bingo gerufen wird. Aus dem Off setzt eine rockige Musik mit einem witzigen Text ein:

„Ich reime Zahlen und ich rechne Buchstaben/Ich sammle Zeit, bis wir sie zusammenhaben […]“ (0:01:23 ff.). Beim Gang entlang der Straße erscheinen die Schauspielernamen beiläufig als Graffito, auf Schildern und auf Plakaten in der erzählten Welt. Mit der Ankunft im Bingosalon wechselt der Animations- zum Realfilm. Das Laufen der Bingotrommel wird in raschen Schnitten, jäh wechselnden Perspektiven und Einstellungsgrößen sowie durch Musik stark ästhetisiert und verfremdet. Sodann setzt im Voice-Over der Ich-Erzähler ein: „Ich heiße Rico Doretti und ich bin ein tiefbegabtes Kind […] In meinem Kopf ist auch eine Bingotrommel“ (0:03:17 ff.). In rapiden Mehrfachbelichtungen, Überblendungen und Nahaufnahmen der rotierenden Kugeln entsteht ein Mind-Screen der Figur als audiovisuelle Entsprechung des Bingo in Ricos Kopf. Sodann entfaltet sich eine Art Minidrama: Die Hauptfigur wird ein Gewinner im Rampenlicht, der für seine „Tiefbegabung“ von der Moderatorin gedemütigt wird, sich daraus jedoch rasch wieder erhebt – „So, und als Preis hätte ich gern die Tasche!“ (0:04:12) – und sich abschließend mit seiner Mutter und seinem Gewinn fröhlich heimwärts trollt. Halten wir fest: ein rascher point-of-attack, eine Gattungsmischung aus Animations- und Realfilm, ein beiläufiges Zeigen der Schauspielernamen, launige Musik, die audiovisuelle Dynamik des Bingo im Saal und im Kopf, eine flotte Mama und eine verschrobene Zeremonienmeisterin, ein Schnelldrama aus Gewinnen, Verlieren und Wiederaufstehen. Mit effektvoll genutzten Mitteln des Mediums schafft dieser Beginn ein großes Attraktionspotenzial.

Nachgefragt bei: Dr. Ingo Kammerer und Prof. Dr. Klaus Maiwald 21.04.2021
„Das Thema Film ist wichtig!“
Der Film ist mittlerweile fest in den Lehrplänen an deutschen Schulen verankert. Schülerinnen und Schüler erleben heutzutage Geschichten oft eher am Fernseher oder am Computer statt ein Buch zu lesen. Kein Wunder, dass auch Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer verstärkt das Medium Film in ihren Unterricht einbeziehen. Wir sprachen hierüber mit den Autoren unserer neuen Filmdidaktik Deutsch. mehr …

Der Merkrekorder

b) Ricos Denkprobleme sind innere Phänomene, für die der Film neben den Bingokugeln wirkungsvolle äußere Entsprechungen findet. Sinnfällig wird dies beim Gang zum Supermarkt (0:14:05 ff.). Rico legt die vorgesehene Kassette in seinen „Merkrekorder“ ein und macht sich auf den Weg. In einer Totalen aus extremer Aufsicht wirkt er klein und verloren in der Umgebung. In Großaufnahme wird sein Schritt über die Bordsteinkante und ins Unvertraute ins Bild gesetzt. Sodann wird ein Mind-Screen höchster kognitiver Unordnung entwickelt. Abermals sehen wir rotierende Kugeln; Ricos Bewegungen erscheinen im Zeitraffer, in Untersicht, in einem gekrümmten Fischaugenraum, es kommt zu Überblendungen und Mehrfachbelichtungen; das Straßenschild multipliziert die „Dieffenbachstraße“ in surrealer Weise; zu hören sind Fetzen eines inneren Monologs: „rechts … links … das rote Tuch“ (0:15:00), darüber gelegt ist eine unruhig treibende Musik. Die Desorientierung endet, als Rico an das rote Tuch gelangt und mit seinem Rekorder weitere Anweisungen abruft – gleichzeitig enden auch die audiovisuellen Verfremdungen. Rico findet die Richtung, eine Totale des Supermarktes zeigt Überblick und Orientierung an, auch die Musik beruhigt sich.

Slapstick-Situationen

c) Mitunter lässt sich die Komik einer Figur oder einer Situation verbalsprachlich kaum vermitteln. Diesem Umstand verdankt sich der Slapstick, der vor allem in der Stummfilmzeit florierte. Das Schlagen mit einer Pritsche, das dem Genre den Namen gab, das Werfen von Torten oder das Ausrutschen auf Bananenschalen ist nur in der szenischen Verkörperung lustig. Auch Rico, Oskar und die Tieferschatten enthalt Szenen, deren Komik audiovisuell besonders gut zum Tragen kommt:

1) Gerade als Rico nach einem Papierchen greifen will, rollt der Nachbar mit seinem Wohnmobil darauf (0:07:15). Damit nicht genug, erscheinen die boshaften Nachbarzwillinge, ironischerweise in einem feenzarten Dress, und verwickeln Rico hämisch und von oben herab in eine ihn überfordernde Denkaufgabe.

2) Die auf dem Gehsteig entdeckte „Fundnudel“ (0:08:40) wird im Merkrekorder festgehalten („weich, Käsesoße“, Abb. 131) und dann als Fernrohr auf ein Fenster gerichtet: „Konnte rausgefallen sein!“ (0:09:00)

3) Mit italienischem Eis assoziieren wir Sommer und Lebensfreude. In groteskem Kontrast hierzu fuhrt in dem von Rico und Oskar aufgesuchten Eiswagen Anke Engelke als schlecht gelaunte Verkäuferin ein barsches Regiment (0:29:34 ff.). Diese Szene enthalt so viel situationskomisches Potential, dass der Film sie aus dem Folgeband Rico, Oskar und das Herzgebreche vorzieht.

4) Der Film beginnt im Animationsmodus und wechselt immer wieder mit komischem Effekt in diesen, wenn Rico sich schwierige Sachverhalte erklärt, beispielsweise die Schwerkraft, von der die Mutter ihren Busen bedroht sieht (0:11:35 ff.), oder den Rat Be a man! (0:55:00 ff.), auf den hin Rico zu einem Wildwest-Sheriff mutiert.

Filme leben von intensiven Bildern und markanten Kontrasten. Angsteinflößende „Tieferschatten“ im Inneren eines Gebäudes zu beschreiben ist eines); ein anderes ist es, Schatten zu zeigen – wovon bereits der Schattenstil des expressionistischen Stummfilms der 1920er Jahre Gebrauch machte. Eindrucksvoll kommt die audiovisuelle „Sprache“ des Films zur Geltung, wenn Rico auf die Suche nach dem Mädchen Sophia geht. Zunächst wird eine laute Mitfahrt im Auto eines forschen Nachbarn (0:54:00 ff.), dann ein leiser Besuch bei einem stillen Mädchen (0:57:50 ff.) präsentiert.

Haben wir Sie neugierig gemacht? Wenn Sie weiterlesen wollen, dann empfehlen wir Ihnen das Buch zur „Filmdidaktik Deutsch“.

Die Autoren
Dr. Ingo Kammerer ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Film-Bildung-Schule“ und Autor vielfältiger Publikationen zum Film, dessen Ästhetik, Wirkung und Vermittlung.

Prof. Dr. Klaus Maiwald ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Er ist Autor von zahlreichen filmdidaktischen Publikationen und Mitautor einer virtuellen Lernumgebung zum Thema Filmästhetik und Filmdidaktik.

Filmdidaktik Deutsch

Der Film hat in den gut 125 Jahren seiner Existenz eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte geschrieben. Er entwickelte sich zum Leitmedium unserer Kultur und hat sich mittlerweile auch in Lehrplänen und im Unterricht etabliert. Dennoch ist die filmdidaktische Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern noch randständig.
Hierauf antwortet die vorliegende Einführung. Sie geht davon aus, dass für die Beschäftigung mit filmischen Texten dem Fach Deutsch eine Leitfunktion zukommt. Zunächst fragt sie nach dem ‚Weshalb‘ und dem ‚Wozu‘ des Filmunterrichts und entwickelt aus bestehenden Konzeptionen einen eigenen filmdidaktischen Begründungsrahmen. Sodann entfaltet sie ausführlich fach- und sachanalytische Grundlagen, auf die Filmlehrerende zugreifen können müssen. Im Anschluss an eine Systematisierung von Verfahren des Umgangs mit filmischen Texten folgen sechs Praxismodelle, in denen der Kompetenzaufbau für verschiedene filmische Gegenstände und Jahrgangsstufen exemplarisch aufgezeigt wird. Ein kurzer fachlicher und didaktischer Ausblick schließt den Band ab, der als Ganzes gelesen, aber auch zum gezielten Nachschlagen genutzt werden kann.
Die Einführung richtet sich an Studierende, Referendare und Lehrkräfte sowie an Lehrende des Faches Deutsch an Schulen und Hochschulen.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik