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Forschen zum Schrifterwerb: Anke Reichardt, Susanne Riegler, Norbert Kruse (Fotos: privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Norbert Kruse, Prof. Dr. Anke Reichardt, Prof. Dr. Susanne Riegler

„Schrifterwerb braucht das Handschreiben ebenso wie das Tastaturschreiben“

ESV-Redaktion/LP
28.07.2021
Wie lernen Kinder heutzutage Schreiben? Welchen Einfluss haben die Digitalisierung und die Corona-Pandemie darauf? Und was ist in diesem Zusammenhang mit „Materialität“ gemeint? Erfahren Sie mehr im Interview mit Prof. Dr. Norbert Kruse, Prof. Dr. Anke Reichardt und Prof. Dr. Susanne Riegler.
Lieber Herr Kruse, liebe Frau Reichardt, liebe Frau Riegler, wie definieren Sie den Begriff Materialität und inwiefern hat dieses Konzept für den Schrifterwerb Relevanz?

Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler: Zurzeit erleben wir mehr oder weniger glückende Versuche, ein ganzes Schulsystem in digitale Formen zu überführen. Mit dem Corona-Virus gewinnt eine Außenwelt jenseits der Bildungssysteme in der Schule eine Realität und wird in ihrer Materialität greifbar. Solche Zusammenhänge gibt es in jedem alltäglichen Unterricht: Mit einer Schultafel wird materiell greifbar, dass etwas vermittelt werden soll. Mit der Müdigkeit von Kindern bei geschlossenen Fenstern wird materiell greifbar, dass der CO2-Gehalt im Klassenraum steigt und gelüftet werden sollte. Die Forschungsrichtung, die wir mit unserem Buch für die Unterrichtsforschung zum Schrifterwerb vorschlagen, richtet sich also auf das komplexe Wechselverhältnis von Unterrichtspraktiken beim Lesen- und Schreibenlernen und ihren materialen Voraussetzungen.
Allerdings ist nicht jede Aktivität im Unterricht eine Praxis. Nur dann, wenn etwas gewohnheitsmäßig wiederholt und regelmäßig ausgeführt wird, kann man von einer Praktik sprechen. Praktiken sind auch sozial gebunden und immer eine Abfolge von mehreren Handlungen. Materiell ist das Erlesen eines Wortes beispielsweise an die Schriftgröße und Schriftart gebunden und an den Schriftträger. Wenn ein Kind liest, folgt es einer Reihe von sozial gebundenen Handlungen: Es legt den Finger unter die einzelnen Buchstaben, artikuliert die Laute und erschließt sich so die Lexik des Gelesenen.

Gerade in Zeiten des pandemiebedingten digitalen Lernens mangelt es vielen Schülerinnen und Schülern ja an analogem Lernmaterial und an hinreichender Einweisung in ihre digitalen Entsprechungen. Wie sehen Sie den Einfluss dieser Umstellung auf den Schrifterwerb? Lernen Kinder heute anders Lesen und Schreiben als früher?

Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler: In erster Linie werden die medialen Möglichkeiten, mit Schrift zu kommunizieren, vielfältiger und dieses „Mehr“ an unterschiedlichen Schriftspracherfahrungen ist zunächst einmal positiv. Schaut man sich jedoch die aktuellen didaktischen Angebote zum Schreiben, Rechtschreiben und zum grammatischen Lernen in Form von Apps, Lernspielen oder Lernplattformen an, dann sind wir skeptisch. Die meisten Angebote übertragen vormals analoge Aufgabenblätter und Übungen einfach ins Digitale, ohne das spezifische Potential softwarebasierter Möglichkeiten – etwa zur adaptiven, individuellen Passung an das Können der Kinder – wirklich auszuschöpfen. Auch sind die wenigsten Angebote auf Interaktion mit anderen Kindern ausgerichtet, so dass die Übungen vorrangig bereits Gekonntes abprüfen, bzw. Fehler markieren. Wünschenswert wären zum Beispiel induktive, problemorientierte Aufgabenformate zum Lernen in sozialer Interaktion.
Hinzu kommt, dass in einer praxistheoretisch ausgerichteten Forschung nicht so sehr die Wirkung der Digitalisierung auf den Unterricht interessiert, sondern die jeweiligen unterrichtskulturellen Praktiken, die mit solchen Bedingungen entstehen, in denen Kinder Lesen lernen sollen, wenn sie Texte schreiben oder sich lernend der Nutzung digitaler Medien zuwenden sollen.
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Angesichts der zunehmenden Digitalisierung fast sämtlicher Lebensbereiche wurde ja schon oft spekuliert, ob die Handschrift generell vom Aussterben bedroht ist. Was ist Ihre Einschätzung dazu, und wie sehen Sie die Zukunft des Schrifterwerbs?

Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler: In der öffentlichen Debatte um das Handschreiben in der Schule herrscht nach wie vor die Überzeugung von der Überlegenheit des verbundenen Schreibens. Nicht wahrgenommen wird, dass in mehreren Studien das unverbundene und teilverbundene Handschreiben schneller und flüssiger erfolgt als verbundenes, zumal auch hier die Buchstaben verbunden werden, allerdings als Bewegungen in der Luft und nicht sichtbar auf dem Papier. Eine teilweise verbundene Handschrift ist also nach wie vor unabdingbar zur kommunikativen Nutzung der Schrift, weil sie eine gute Automatisierung ermöglicht, besser jedenfalls als die verbundenen Schulschriften.
Grundsätzlich ist das Handschreiben wenig technikabhängig, es kann in vielen Kommunikationssituationen ohne großen Aufwand Sprache fixieren und sie über Distanzen weitergeben. Ebenso wie die audiovisuellen Medien das Buch nicht ersetzt haben, wird auch das Tastaturschreiben die Handschreibung nicht ohne Weiteres ersetzen können. Dennoch wäre es unverzeihlich, wenn die Schule auf Dauer und angesichts der kulturell-technischen Entwicklung des Unterrichts das Tastaturschreiben aus dem Unterricht verbannen würde. Der Schrifterwerb braucht das Handschreiben zukünftig ebenso wie das Tastaturschreiben.

Ihr Sammelband behandelt auch den Einfluss von sozialer Ungleichheit auf mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Bitte erzählen Sie uns doch, zu welchen Schlussfolgerungen die von Ihnen präsentierten Studien zur aktuellen Situation in Deutschland kommen. Besteht Grund zur Hoffnung, oder doch mehr Anlass zur Sorge?

Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler: Das ist eine Frage, die eigentlich die Schulentwicklungsforschung betrifft. Dennoch lassen sich aus unserer Sicht für die Grundschulen in Deutschland einige kritische Anmerkungen machen. Bildungspolitik und Schuladministration versuchen aktuell, zukünftige Herausforderungen vor allem mit technologischen Mitteln zu bewältigen. Die Initiative „Schulen ans Netz“ im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war ja nicht besonders erfolgreich, weil sich die Praktiken im Unterricht nicht änderten. Jetzt hat die Corona-Pandemie einen Digitalisierungsschub erzeugt, den die Bildungspolitik dankbar aufgreift und mit verstärkten Finanzierungsanstrengungen dafür sorgen will, dass die Schulen mit stabilen WLAN-Netzen, Plattformen für Videokonferenzen und brauchbaren Rechnern etc. ausgestattet werden.
Konzepte für eine entsprechende Lehrerbildung liegen bislang nur unzureichend vor. Die angestrebten technischen bzw. digitalen Innovationen sind zwar materielle Mittel, die die Herausforderungen der Zukunft bewältigen sollen. Aber die Materialität dieser technologischen Umbrüche besteht gerade darin, dass sie nicht nur physische und funktional-technische Dimensionen enthalten, sondern auch symbolische, perzeptive und soziale Dimensionen. Forschungen zur Materialität des Schrifterwerbs könnten deshalb vielleicht auch zeigen, dass ohne Strukturveränderungen des Bildungswesens insgesamt sich die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswesen fortsetzt. Da das dreigegliederte Schulsystem, das es seit dem Kaiserreich gibt, das den Ersten Weltkrieg, den deutschen Faschismus, die Nachkriegsordnung und die Wiedervereinigung in Deutschland überstanden hat, ein wichtiger Grund für die Reproduktion von Bildungsungleichheit in Deutschland ist, sind wir nicht unbedingt optimistisch, dass nun Corona-Pandemie und der Digitalisierungsschub eine wirklich nachhaltige Entwicklung zu mehr Bildungsgerechtigkeit einleiten werden.

Gibt es in Ihrem Band auch praktische Tipps für Lehrenden gibt, wie diese den Schrifterwerb ihrer Schülerinnen und Schüler besser fördern können?

Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler:
Unsere Publikation ist zunächst Ergebnis einer deutschdidaktisch-wissenschaftlichen Reflexion darüber, wie wir mit unseren Forschungen näher an die Unterrichtswirklichkeit herankommen können. Die bisherige dominante Forschung zum Schrifterwerb untersucht zum Beispiel Effekte des Einsatzes bestimmter Methoden im Unterricht und gibt dann Empfehlungen oder Tipps, was man anders machen sollte.
Wir möchten mit dem Vorschlag für eine ergänzende Forschungslogik plädieren, die auch zeigt, dass neue Unterrichtspraktiken kein Ergebnis individueller Willensakte einzelner Lehrpersonen sind, sondern Veränderungen eingebunden sind in eine Lernkultur, in der soziale Praktiken in Abhängigkeit von ihren materiellen Voraussetzungen etabliert werden können. Wir denken, dass die sehr konkrete Beschreibung unterrichtlicher Praktiken in den Beiträgen bei jeder Lehrkraft ein Nachdenken darüber auslösen kann, was man anders machen müsste und wo Ansatzpunkte für eine andere Unterrichtspraxis gegeben sind.

Die Herausgeber*innen
Prof. Dr. Norbert Kruse, Professor für Deutschdidaktik mit dem Schwerpunkt Grundschule an der Universität Kassel. Lehr- und Forschungsschwerpunkte Schriftspracherwerb als elementare Schriftkultur, Schreibunterricht, Rechtschreib- und Grammatikunterricht in Theorie und Praxis.
Prof. Dr. Anke Reichardt, Professorin für Schriftspracherwerb unter den Bedingungen von Heterogenität an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Schriftspracherwerb, Schreib- und Rechtschreibunterricht, sprachdidaktische Lehrer*innenprofessionalitätsforschung.
Prof. Dr. Susanne Riegler, Professorin für Grundschuldidaktik Deutsch am Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich der Universität Leipzig. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Schriftsprach- und Orthografieerwerb, orthografiedidaktische Lehrer*innen- und Unterrichtsforschung, Sprachreflexion und Grammatikunterricht.

Materialität des Schrifterwerbs. Herausforderungen für die Forschung zum Lesen- und Schreibenlernen

Herausgegeben von: Norbert Kruse, Anke Reichardt, Susanne Riegler

Mit Beiträgen von S. R. Julia Fröhlich, Dieter Isler, Iris Kruse, Norbert Kruse, Beate Leßmann, Birgit Mesch, Natascha Naujok, Susanne Riegler, Anke Reichardt, Romina Schmidt, Petra Wieler, Alexandra L. Zepter, Evamaria Zett

Die Materialität des Schrifterwerbs im Elementarbereich und in der Grundschule ist Gegenstand der Beiträge dieses Sammelbandes. Im Mittelpunkt stehen Beobachtungen zu literalen Praktiken und didaktischen Arrangements in alltäglichen Lernsituationen und die damit verbundene Dynamik, Sozialität und Körperlichkeit. Indem die vorfindlichen Praktiken des Schrifterwerbs in kulturwissenschaftlich-praxeologischer Ausrichtung in den Blick genommen und auf ihre Sinnhaftigkeit für die Erweiterung literalen Handlungsvermögens untersucht werden, tragen die Autorinnen und Autoren zu einer Erweiterung der bisherigen Forschungsperspektiven auf das Lesen- und Schreibenlernen am Schulanfang bei.
Im Mittelpunkt steht das Beschreiben und Verstehen des literalen und sprachlichen Unterrichts am Schulanfang, seine praktischen Ausformungen und die Widersprüche, die dabei sichtbar werden. Der Anspruch dieses Sammelbandes ist damit zugleich bescheiden und herausfordernd: bescheiden, insofern die Probleme der gegenwärtigen Forschung zum Schriftspracherwerb benannt und beschrieben werden, herausfordernd, weil es dazu adäquater methodologischer Perspektiven bedarf, denen es gelingt, den Schriftspracherwerb als institutionsgebundenes Phänomen zu fassen.
Kurz- und mittelfristig geht es um ein deutschdidaktisches Forschungsprogramm, das herausarbeiten kann, wie die Praktiken des Unterrichts zum Schriftspracherwerb an der Bildungsbenachteiligung von Kindern in Deutschland beteiligt sind und den Zusammenhang von Schulerfolg und sozialer Herkunft reproduzieren.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik