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Die Beschriftung des Plakats sollte nicht zufällig sein, wenn die Aussage das Ziel erreichen soll. (Foto: hannamartysheva – stock.adobe.com)
Auszug aus: „Revolution! Deutschsprachige Kulturen im Umbruch 1918–1968“

Spruchbanner: die Tweets der 68er

ESV-Redaktion Philologie
24.05.2023
Was macht die Durchschlagkraft von Sprüchen auf Plakaten aus, was bleibt in Erinnerung? Viele Slogans, egal ob politischer oder werblicher Art, verfestigen sich derart, dass sie noch lange nach dem eigentlichen Einsatz das „Ziel“ erreichen. In diesem Falle kann man von einer gelungenen diskursiven Strategie sprechen.
Berit Balzer (Universidad Complutense de Madrid) beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Titel: „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“: die Rhetorik auf Transparenten und Spruchbannern der 68er-Bewegung mit den rhetorischen Mitteln der Parolen auf Spruchbannern im Kontext der 68er-Studentenbewegung.
Der Beitrag stammt aus dem im Frühjahr 2023 im Erich Schmidt Verlag erschienenen Band „Revolution!“. Er umfasst Reflexionen über revolutionäre Ereignisse und über die Wirkung auf die deutschsprachigen Gesellschaften aus philologischer, philosophischer, kultur- und kunstwissenschaftlicher Perspektive. Im Mittelpunkt steht der Zeitraum zwischen der Novemberrevolution 1918/19 und der Studentenbewegung 1968: Die Beiträge zeichnen entweder übergreifende Entwicklungen und Parameter dieser das 20. Jahrhundert prägenden Ereignisse nach, oder widmen sich in Einzelstudien herausragenden Figuren und Texten dieser Jahrzehnte.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug:

1. Einleitung
Die Langzeitwirkung der Studentenunruhen und der gesamten 68er-Bewegung kam in erheblichem Maße über die Rhetorik zustande, die dem massiv eingesetzten Kommunikationsmittel der Spruchbanner zugrunde lag. Solche Plakate oder Transparente funktionierten ein wenig wie die heutigen Tweets, d. h., ihr ‚Zweck‘ ist, eine individuelle Meinung rasch kundzutun und Konsens unter dem Zielpublikum zu erheischen. Darüber hinaus sollten bestimmte Ideen übermittelt, verbreitet und im Kollektiv angenommen werden. Ein Transparent ist zwar in erster Linie ein optisches Mittel, welches eine appellative Funktion ausübt, aber wenn es bei Demonstrationen oder Kundgebungen eingesetzt wird, kann es auch als Vorgabe für den erwarteten oder erwünschten Sprechgesang von Seiten des Publikums dienen, über den dieses seine Zustimmung zu den verbreiteten Ideen äußert. In dieser Hinsicht lösen Parolen dann eine gewisse Reaktion aus, d. h. sie rufen zu Handlungen auf und treten somit in eine persuasive Dimension ein, indem sie lautstarke Zustimmung zu ihren Forderungen anstreben. Anhand einer Untersuchung von 32 weit verbreiteten sogenannten Sponti-Sprüchen soll bestimmt werden, welche pragmatische Wirkung die darin verwendete Sprache erzielte. Damit sich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung besser erklären lässt, möchte ich die betreffenden Sprüche verschiedenen thematischen Oberbegriffen zuordnen.
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3. Generelle Rhetorik der Sprüche
In der Folge soll die Durchschlagskraft der Sprüche auf den Transparenten, gegliedert nach den Themenkreisen, auf die sie Bezug nehmen, genauer untersucht werden. Einige lassen sich jedoch nicht ohne weiteres zuordnen, sondern veranschaulichen das generelle Klima der Zeit. Der Spruch „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“, der diesen Beitrag betitelt, greift gleichermaßen auf mehrere rhetorische Mittel zurück und steht emblematisch für die gesamte 68er-Bewegung. Mund (2018) formuliert dies so:

Die Jugend begehrt auf – gegen überkommene Moralvorstellungen, gegen alte Nazigrößen an den Schaltstellen der Macht, gegen den ‚Muff von 1000 Jahren‘ unter den Talaren, wie Hamburgs Studenten, die für Mitbestimmung an den Unis demonstrieren, auf ein Transparent pinseln. Der Spruch wird zur meistzitierten Parole der Studentenbewegung, die eine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen verlangt, elitäre Strukturen anprangert und Traditionen an den Hochschulen in Frage stellt.

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass obiger Spruch – wie die weitaus meisten, was ihre diskursive Strategie betrifft – mit dem Endreim operiert (Talaren/Jahren), desgleichen auch in „Revolution ist machbar, Herr Nachbar“ oder in „Haut dem Springer auf die Finger!“. Darüber hinaus spielen Tropen wie die Katachrese – ein Stilmittel, das unstimmige sprachliche Bilder verbindet – und die Periphrase – die erweiternde Umschreibung eines Begriffes – eine entscheidende Rolle. So steht die Redewendung ‚jdm. auf die Finger hauen‘ allgemeinsprachlich für ‚jdn. für etwas rügen oder zur Rechenschaft ziehen‘, in diesem Fall den Springer-Konzern. Andererseits kombiniert sich als Katachrese weiter oben z. B. der verdächtige Modergeruch (Muff) mit altehrwürdiger Amtstracht, Revolution mit dem friedlichen Herrn Nachbarn, sowie das Adjektiv machbar (also unter gegebenen Voraussetzungen sich verwirklichen lassend) mit der Dringlichkeit einer Revolution. Viele Sprüche sind appellativer Art, zum Beispiel: „Stell dir vor, es ist Sonntag, und keiner kauft Bild!“ In verballhornter Anlehnung an Carl Sandburgs „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ wird indirekt zum Boykott der Bild-Zeitung aufgerufen. Oder „Alle, die jetzt aufgestanden sind, sollen sich widersetzen“, wo außerdem ein Wortspiel mit Homophonie und Wortgrenze zwischen ‚wider-‘ und ‚wieder‘ entsteht. Auch die Antithese kommt bisweilen zum Tragen wie in „Du statt Sie“, ein Spruch, der zu weniger Formalität und größerer Vertraulichkeit in den Umgangsformen aufruft. Bei der Sentenz „Wer kämpft, kann verlieren; wer nicht kämpft, hat schon verloren“ haben wir es mit einer Paronomasie – einem Stilmittel, das Wörter miteinander verbindet, die semantisch oder etymologisch nicht zusammengehören, aber auch Bezugswörter mit demselben Wortstamm: verlieren/verloren – und einer Generalisierung (wer=jeder, der) sowie mit einer Parallelstruktur im Satzbau zu tun. Weiterhin eignen sich zahlreiche Sprüche aufgrund ihres Dreiklangs idealerweise zum Skandieren bzw. zum Sprechgesang in der Masse.
[...]

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„Ein Spannungsfeld zwischen zwei unterschiedlichen Erinnerungsdiskursen“
In der deutschsprachigen Literatur der Jahrtausendwende gibt es eine starke Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung der 1960er-Jahre, wobei diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln geführt wird: Die Autor/-innen der 1968er-Generation schauen anders zurück als ihre Kinder, die 1998-Generation, die 30 Jahre später auf die eigene Jugend zurückblickt. mehr …

6. Drogenexperimente
In folgendem Spruch „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“ wird nicht nur der Drogenrausch gelobt, sondern auch für Terroraktionen geworben. Der Dreiklang auf ‚sein‘ und das Echo des Diphtongs (high-dabei) unterstützt den skandierenden Tonfall. Bei „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“ findet eine Verballhornung des pazifistischen Statements „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen“ statt – ein häufig Willy Brandt zugeschriebener Satz, den besonders ‚linke‘ Politiker immer wieder gern zitieren.
Außerdem spielt seine Rhetorik mit der Paronomasie von ‚ausgehen‘ (‚erlöschen‘ oder ‚an einem bestimmten Punkt beginnen‘). Dagegen wirkt der endreimende Spruch „Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund“ eher versöhnlich und fast ärztlich beratend. Hinter der Konjunktion ‚und‘ verbirgt sich allerdings ein gewisses Kausalitätsdenken: ‚wenn … dann‘. In dieser gesamten Gruppe sind die Anglizismen ‚high‘ und ‚joint‘ als Novitäten der Zeit in der deutschen Sprache zu begreifen, deren korrekte Aussprache für den Reim schon damals wohl unabkömmliche Voraussetzung war.
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Falls Sie mehr Beiträge aus dem Band "Revolution!" lesen möchten, können Sie ihn hier bequem als Buch oder eBook bestellen. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre!

Die Herausgeberinnen
Teresa Cañadas García promovierte in Deutscher Philologie (Deutsche Literatur) an der Universidad Complutense zu Madrid. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Complutense zu Madrid und ist Direktorin des Masters für Interkulturelle Europastudien. Forschungsschwerpunkte: Exilliteratur, Deutsch-Spanische Beziehungen, Kinder- und Jugendliteratur, Deutsch als Fremdsprache.

Carmen Gómez García ist Professorin für Deutsche Philologie und Übersetzung und Direktorin des Masters für Literarische Studien an der Universität Complutense zu Madrid. Sie arbeitet als literarische Agentin in Madrid und übersetzt ins Spanische (W. G. Sebald, Elfriede Jelinek, Stefan George, Marcel Beyer, Gustav Regler u.a.). Als Gastdozentin lehrt sie an der Karl-Ruprecht-Universität in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Moderne und Avantgarde im deutschsprachigen Raum (1890-1933); Rezeption deutschsprachiger Literatur in Spanien, literarisches Übersetzen.

Linda Maeding promovierte in Komparatistik und Deutscher Philologie an den Universitäten Mainz und Barcelona. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Complutense de Madrid und Habilitandin an der Universität Bremen mit einem DFG-Projekt zu Utopie und Gemeinschaft. Forschungsschwerpunkte: Exil und Diaspora, Literatur und Holocaust, Literaturtheorie, Utopiegeschichte.



Revolution!
Deutschsprachige Kulturen im Umbruch 1918–1968

Herausgegeben von Teresa Cañadas García, Carmen Gómez García und Linda Maeding

Mit Beiträgen von Yasmin Afshar, Marc Arévalo Sánchez, Berit Balzer, Andrea Bartl, Valérie Carré, Thorsten Carstensen, Michael Dobstadt, Juliane Fehlig, Marta Fernández Bueno, Sabine Geck, Heidi Grünewald, Isabel Gutiérrez Koester, Josenia Hervás y Heras, Lia Imenes Ishida, Roland Innerhofer, Cristina Jarillot-Rodal, Brigitte E. Jirku, Yuuki Kazaoka, Nikolaos-Ioannis Koskinas, Jean-François Laplénie, Magdalena Latkowska, Cornelius Mitterer, Juanjo Monsell Corts, Miguel Oliva Rioboó, Paloma Ortiz-de-Urbina, David Österle, Rosa Pérez Zancas, Alfred Prédhumeau, Rolf G. Renner, Dolors Sabaté, Paloma Sánchez Hernández, Daria Šemberová, Marisa Siguan, Bernd F.W. Springer, Şebnem Sunar und M. Loreto Vilar 

Revolutionen erheben als einschneidende Ereignisse des Umbruchs den Anspruch auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Erneuerung einer Gemeinschaft. Das Buch umfasst Reflexionen über „Revolution“ und ihre Wirkung auf die deutschsprachigen Gesellschaften aus philologischer, philosophischer, kultur- und kunstwissenschaftlicher Sicht.
Mit Fokus auf die Germanistik werden die Sektionen Literatur, Kunst und Kultur, Linguistik und DaF sowie Philosophie in Beiträge von Experten/Innen aus unterschiedlichen Ländern und Fachkulturen präsentiert. Historisch steht der Zeitraum zwischen der Novemberrevolution 1918/19 und Studentenbewegung 1968 im Mittelpunkt.

Der Band
- setzt erstmals die Novemberrevolution in Korrelation zur Studentenbewegung 1968.
- zeigt die Auswirkungen von einschneidenen geschichtlichen Ereignissen auf Literatur, Sprache und Kultur.
- versammelt fachübergreifene Perspektiven.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik