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Professor Wolfgang Steinig sieht Zusammenhänge zwischen Schulkultur und Bildungserfolg. (Foto: privat)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Wolfgang Steinig

Steinig: „Es geht beim Anredeverhalten, der Rechtschreibung und der Handschrift um soziale Normen“

ESV-Redaktion Philologie
13.09.2017
Seit der Pisa-Studie 2000 herrscht eine anhaltende Debatte über deutsche Bildungs(un)gerechtigkeiten, Frühförderung und Unterrichtsgestaltung. Professor Wolfgang Steinig erläutert seine Untersuchung zur Lernkultur an deutschen Grundschulen im Interview mit der ESV-Redaktion.
Die Ergebnisse und ihre Interpretation erscheinen im September, kurz vor der Bundestagswahl, im Erich Schmidt Verlag. Der Autor sieht darin einen engen Bezug zwischen Einstellungen/Haltungen zur jeweils vorherrschenden Form der Kommunikation, zum jeweiligen Didaktik-Ansatz einer Grundschule und dem Wahlverhalten in dem Wahlkreis, in dem sich die Grundschule befindet.

Lieber Herr Steinig, Sie stellen in Ihrem Buch die These auf, dass an deutschen Grundschulen verschiedene Kulturen vorherrschen. Was ist damit genau gemeint?

Wolfgang Steinig: Unter Schulkultur verstehe ich das soziale Miteinander in einer Schule, die Art und Weise, wie Lehrkräfte mit ihren Schülerinnen und Schülern kommunizieren und wie unterrichtet wird. Mit diesem weiten Blick auf unsere Grundschulen wird man beobachten können, dass hier teilweise große Unterschiede bestehen. Es gibt einerseits Schulen, in denen die Lehrkräfte ein enges, nahezu freundschaftliches  Verhältnis zu den Kindern haben, und andererseits solche, die stärker durch Distanz und Respekt geprägt sind. Dieser Unterschied zeigt sich insbesondere darin, wie Kinder ihre Lehrkräfte anreden, ob sie sie siezen oder duzen, wie viel Wert auf die Rechtschreibung gelegt und welchen Ausgangsschriften der Vorzug gegeben wird.

Anrede, Rechtschreibung und Ausgangsschriften werden also an Grundschulen unterschiedlich gehandhabt. Welche gesellschaftlichen Erwartungen und Normen spiegeln sich darin wider?

Wolfgang Steinig: Sowohl beim Anredeverhalten, wie bei der Rechtschreibung und auch bei der Handschrift geht es um soziale Normen. Ab wann und warum sollten Kinder ihre Lehrkraft  siezen? Ab welcher Schulstufe und in welchen Texten sollte besonders auf die Rechtschreibung geachtet werden? Und wie sollte die Handschrift eines Grundschulkindes aussehen? Wie diese Normen vermittelt werden und wie viel Wert auf ihre Einhaltung gelegt wird, dabei gibt es von Schule zu Schule große Unterschiede. Während mancherorts früh und konsequent auf die Einhaltung dieser Normen geachtet wird, findet man andererseits Schulen, an denen toleranter damit umgegangen wird und die Kinder mehr Freiräume haben.

Spiegel.de: „Vielbeachtete Langzeitstudie mit Viertklässlern“
Wolfgang Steinigs Arbeit ist über die Fachkreise hinaus beachtet worden. In einem aktuellen Beitrag befasst sich Spiegel.de mit der Studie zum Thema Rechtschreibung in Grundschulen – und mit Steinigs Buch.

Zeit.de: „Aufwendige Studie”
In einem aktuellen Interview mit der Hamburger Wochenzeitung erläutert Wolfgang Steinig seine im Erich Schmidt Verlag publizierte Studie.

Sie haben zur Untermauerung Ihrer Thesen an den Grundschulen empirische Befragungen durchgeführt und diese mithilfe eines Experten statistisch ausgewertet. Welche Fragen sollten denn die Grundschulen beantworten?

Wolfgang Steinig: Wir haben in jeweils zwei zufällig ausgewählten Grundschulen in jedem der insgesamt 299 Bundestagswahlkreise die Lehrkräfte gefragt, von wie vielen Kindern sie in der ersten, zweiten, dritten und vierten Klasse geduzt werden und wie sie dieses Verhalten bewerten. Dann wollten wir von ihnen wissen, in welchem Ausmaß sie beim Schreiben in den ersten beiden Schuljahren die Rechtschreibung gewichten, und schließlich haben wir gefragt, welche Handschriften sie vermitteln.

„In Wahlkreisen, in denen ‚Die Linke‘ stark ist, wird öfter gesiezt“

Sie können in Ihrem Buch einen engen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Schulkultur und der politischen Präferenz des entsprechenden Wahlkreises, in dem die Schule liegt, zeigen. Wie hängen diese beiden Parameter miteinander zusammen?

Wolfgang Steinig: An Grundschulen in den Wahlkreisen, in denen vor allem die SPD, aber auch die Grünen und die FDP überdurchschnittliche  Ergebnisse bei der letzten Bundestagswahl erzielt haben, werden die Lehrkräfte häufiger geduzt. Gleichzeitig spielt an diesen Schulen die Rechtschreibung eine geringere Rolle. An Schulen in Wahlkreisen, in denen die 'Die Linke' stark sind, werden die Lehrkräfte hingegen früher und öfter gesiezt und die Rechtschreibung muss stärker beachtet werden. Die CDU/CSU liegt irgendwo dazwischen.

Gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen einer eher formellen Schulkultur und dem Bildungserfolg der dort ausgebildeten Schüler? Und was wäre Ihrer Ansicht nach die Konsequenz daraus?

Wolfgang Steinig: Es geht letztlich um den Respekt gegenüber dem Erwerb von Wissen und den Respekt gegenüber den Personen, die dieses Wissen vermitteln. Uns hat es überrascht, wie stark die zunächst banal erscheinende Beobachtung, dass Grundschullehrkräfte entweder gesiezt oder geduzt werden, in einem engen Zusammenhang stehen mit den unterschiedlichen Bildungserfolgen, wie sie landesweit in den Bundesländern ermittelt wurden. Aber das Duzen oder Siezen von Lehrkräften ist offenbar ein linguistisches Signal dafür, wie viel Respekt ihnen und dann auch dem Wissen, das sie vermitteln, entgegengebracht wird. Mit der Sie-Anrede geht aber auch ein formelleres Sprachverhalten einher. Kinder, die ihre Lehrkraft siezen, formulieren anspruchsvoller. Ihre Wortwahl und ihr Satzbau sind elaborierter. Sie strengen sich sprachlich wie auch kognitiv stärker an: zunächst im Mündlichen, aber dann auch im Schriftlichen, wie man nicht nur am Umgang mit der Rechtschreibung erkennen kann. 

„Dass bei der schulischen Erziehung vieles im Argen liegt, weiß heute jeder“

Ihr Buch könnte zu heftigen Reaktionen bei den Leserinnen und Lesern führen, denn viele Ihre Thesen und Ergebnisse sind brisant und nicht immer angenehm. Warum haben Sie das Buch trotzdem so pointiert geschrieben, wie Sie es getan haben?

Wolfgang Steinig: Wissenschaft ist für mich spannender als jeder Krimi. Und wenn wissenschaftliche Erkenntnisse dann noch eine politische Dimension bekommen, wird es richtig brisant. Das sollte man dann auch pointiert formulieren, damit nicht nur Wissenschaftler verstehen, um was es geht, nämlich um die Zukunft unserer schulischen Erziehung. Dass hier vieles im Argen liegt, weiß heute jeder. Aber wo genau die Gründe liegen, dass einige Bundesländer in Vergleichsstudien erfolgreicher sind als andere, dass die Rechtschreibleistungen seit den 1970er Jahren stark abgefallen sind und dass Kinder aus unteren sozialen Milieus an unseren Schulen vergleichsweise geringe Chancen haben, dazu konnte man wenig lesen. Vor allem wurde bislang nicht klar, wie diese auf den ersten Blick so unterschiedlichen Befunde zusammenhängen.

Lesen Sie auch:
Anredeverhalten, Rechtschreibung und Ausgangsschriften

Das Buch
Das Buch Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik ist im September im Erich Schmidt Verlag als Print und eBook erschienen. Sie können es bequem hier bestellen.

Der Autor
Prof. Dr. Wolfgang Steinig hat als Germanist in München, in Heidelberg und zuletzt an der Universität Siegen gearbeitet, außerdem mehrere Jahre an einer britischen, griechischen und niederländischen Universität. Er ist Autor von Lehrbüchern, wissenschaftlichen Monographien und Artikeln zum schulischen Schreiben, zum Deutschen als Zweit- und Fremdsprache, zur Soziolinguistik und zur Sprachevolution.


(ESV/ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik