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Juristische Feinheiten bei der Corona-Gesetzgebung (Foto: Scott Graham/Unsplash)
Spitzfindigkeiten zu Schutz und Schuld

Strikt „beachten“ und abwägend „berücksichtigen“ – von den Feinheiten der Corona-Gesetzgebung

Thomas Wilrich
12.03.2021
In dieser Kolumne berichtet Rechtsanwalt Dr. Thomas Wilrich regelmäßig von Gerichtsfällen und Rechtsentwicklungen - und was wir von ihnen für den Arbeitsschutz lernen können.
In der Pandemiegesetzgebung durch Corona-Verordnungen wird sehr häufig auf (technische) Regelwerke oder Empfehlungen Bezug genommen. Dabei ist teilweise ihre Berücksichtigung gefordert und teilweise heißt es, sie sind zu beachten.

Vier Beispiele:
  1. § 3 der hamburgischen SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung (HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO) vom 30.06.2020 sagt, es sind „die Besonderheiten der Angebote sowie der Empfehlung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Arbeitsschutz in Zeiten der Corona-Pandemie ‚SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard‘ vom 16. April 2020 berücksichtigen“.
  2. Schleswig-Holstein verfügt in § 22 Verordnung zu Hygienerahmenkonzepten auf der Grundlage der Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (CoronaVHygV SL) vom 12.12.2020 „der Arbeitgeber muss die Empfehlungen des RKI zu COVID-19 beachten“.
  3. § 3 der Coronabetreuungsverordnung (CoronaBetrVO) aus NRW vom 07.01.2021 gilt der Organisation privater Betreuung „verantwortungsvoll – unter Berücksichtigung der Empfehlungen des Robert Koch-Instituts“.
  4. In § 3 der Fünften SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung (5. SARS-CoV-2-EindV) des Landes Brandenburg vom 22.01.2021 heißt es, es „sind zu beachten“ erstens „die einschlägigen besonderen Hygieneregeln und -empfehlungen des Robert Koch-Instituts zum Infektionsschutz“ und zweitens bestimmte (Rahmen-)Hygienepläne, wobei – unüblich in der Gesetzgebung – mit einem Internetlink auf die veröffentlichende Webseite verwiesen wird.
Was ist der Unterschied zwischen Beachtung und Berücksichtigung? Das hat etwa die Begründung der ArbMedV so klargestellt: „Rechtsvorschriften sind zu beachten, Regeln und Erkenntnisse zu berücksichtigen.“ [1] Rechtsvorschriften des Staates in Form von Gesetzen oder Rechtsverordnungen sind – ebenso wie Unfallverhütungsvorschriften der Unfallversicherungsträger – zwingend und strikt zu beachten, d.h. eins zu eins umzusetzen. Alles andere – auch DIN-Normen und Technische Regeln [2] – sind nicht verbindliches und zwingend umzusetzendes Recht und daher nur zu berücksichtigen.

So hat der Arbeitgeber TRBS zu „berücksichtigen“ (§ 4 Abs. 3 BetrSichV), was eben „die Möglichkeit offen lässt, von einer TRBS abzuweichen“ [3]. TRBS „sind selbst keine Rechtsnormen und haben daher keine zwingende Geltung“ [4] und „nicht mehr und nicht weniger als Empfehlungen“ [5]. Berücksichtigen bedeutet „keine strikte Bindung“ [6], sondern unter „Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ durchführen [7].

Berücksichtigung bedeutet: lesen, darüber nachdenken und bei der Umsetzung der BetrSichV zu „gebührend“ erwägen. Gut zusammengefasst heißt es: Man „muss sich mit den Regeln und Erkenntnissen auseinandersetzen (Auseinandersetzungspflicht) und bei einer Abweichung der dem Stand der Arbeitsmedizin entsprechenden Regeln und Erkenntnissen dies auch begründen können (Begründungsverpflichtung)“ [8]. Das stellt etwa § 3 Abs. 8 Satz 2 BetrSichV dadurch klar, dass begründet werden muss, wenn von „Regeln und Erkenntnissen abgewichen wird“, was die Zulässigkeit ihrer Nichteinhaltung belegt [9].

In dieser Terminologie zutreffend und daher rechtlich korrekt fordern die Corona-Verordnungen aus Hamburg und Brandenburg daher die „Berücksichtigung“ des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards bzw. der RKI-Empfehlungen. Brandenburg stellt – das halte ich für gut – klar, dass man „verantwortungsvoll“ sein muss. Die Verordnung in Schleswig-Holstein formuliert unzutreffend, es sei strikt zu beachten. Eine Beachtungspflicht wie auch in Brandenburg in Bezug auf die jeweiligen „einschlägigen besonderen Hygieneregeln und -empfehlungen des Robert Koch-Instituts zum Infektionsschutz“ ist erstens sprachlich misslungen, denn es müssen „Empfehlungen zwingend umgesetzt“ werden. Wenn es ernst gemeint ist, würde eine solche zwingende Umsetzungspflicht – zweitens – die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf das RKI bedeuten. Das aber ist wegen des Demokratieprinzips grundgesetzwidrig: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Soweit eine Rechtsvorschrift allerdings Hygienepläne (sogar mit einem Internetlink) für strikt beachtlich erklärt, wird damit – zulässig – der jeweilige konkrete Plan in der konkreten Fassung in den Willen des Verordnungsgebers aufgenommen. Man hätte das aber durch die Angabe des Bearbeitungsstandes des Planes klarstellen sollen – und aus verfassungsrechtlichen Gründen vielleicht auch müssen.

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen [10] hielt übrigens eine Verfügung, es sei das „U.-Gutachten vom 17.03.2011 zu beachten“ für unzulässig und sagte: „‘Beachten‘ kann bedeuten, ‚auf die Einhaltung von etwas achten‘, etwas ‚berücksichtigen‘, etwas ‚befolgen‘, oder aber ‚aufmerksam auf jemanden‘ sein, ‚etwas achten‘ bzw. ‚zur Kenntnis nehmen‘ (vgl. Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/beachten). Ob die Vorgaben des U.-Gutachtens strikt einzuhalten sind oder aber bei den aufgegebenen Maßnahmen nur als ein Gesichtspunkt unter mehreren zu berücksichtigen, in die Überlegungen mit einzubeziehen sind, geht aus der gewählten Formulierung nicht hinreichend klar hervor. Die Ordnungsverfügung umreißt daher das Geforderte nicht hinreichend klar.“ Das Gericht war sich der klaren Terminologie anscheinend nicht bewusst und wirft unter Verweis auf den Duden die Begriffe durcheinander – es müsste aber auf die Rechtsgrundsätze abstellen: Beachtung heißt strikte Eins-zu-eins-Umsetzung.

[1] BR-Drs. 327/13 v. 25.04.2013, S. 25 und 27.
[2] Ausführlich Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 2017.
[3] BR-Drs. 400/14 (Beschluss) v. 28.11.2014, S. 3.
[4] VG Freiburg, Beschluss v. 17.12.2019 (Az. 4 K 4800/19).
[5] Pieper, BetrSichV – Basiskommentar, 2015, Einleitung Rn. 3.
[6] Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 3; so sagt es auch BT-Drs. 12/6000 v. 5.11.1993, S. 23.
[7] BR-Drs. 400/14 v. 28.8.2014, S. 84.
[8] Aligbe, Rechtshandbuch Arbeitsmedizinische Vorsorge, 2. Aufl. 2020; F Rn. 6.
[9] Ausführlich Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV, 2. Aufl. 2020.
[10] VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 23.12.2014 (Az. 9 L 1896/14).

Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich ist tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung und Arbeitsschutz einschließlich Betriebsorganisation, Führungskräftehaftung, Vertragsgestaltung und Strafverteidigung. Er ist an der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht und Autor von Fachbüchern: Sicherheitsverantwortung (Erich Schmidt Verlag), Arbeitsschutz-Strafrecht (Erich Schmidt Verlag), Produktsicherheitsgesetz (ProdSG), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), Rechtliche Bedeutung technischer Normen.

 


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