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Viele Lateinamerikanische Länder haben ein schweres Erbe. Bild: maurizio clemente/EyeEm
Mariana Eva Perez

Tagebuch, testimonio oder Märchen?

ESV-Redaktion/LP
22.06.2021
Militärdiktaturen, Staatsterrorismus und Krieg haben offene Wunden in den Gesellschaften Lateinamerikas hinterlassen. Sie gehen einher mit anhaltenden Kämpfen um die Deutungshoheit der Geschichte (batallas de la memoria), die sich auch in der neuen und neuesten lateinamerikanischen Literatur abzeichnen. Ein Beispiel dafür ist Diario de una princesa montonera. 110 % Verdad von Mariana Eva Perez.
Lesen Sie hier einen Ausschnitt zum Buch von Mariana Eva Perez aus unserer Neuerscheinung Erschriebene Wahrheiten. Aktuelle Erinnerungsliteratur aus Argentinien und Guatemala im transnationalen Dialog. Mit einer konzeptionellen Kombination aus Gedächtnisforschung und Transnationalität blickt dieser Band auf aktuelle Erzähltexte aus Argentinien und Guatemala, die einen Weg suchen, sich angesichts dominanter und marginalisierter Erinnerungen, fragwürdiger Opfer-Täter-Dichotomien sowie persönlicher und kollektiver Leiderfahrungen eine (literarische) Wahrheit zu erschreiben. Untersucht werden u. a. Romane und Erzählungen von Félix Bruzzone, Mariana Eva Perez, Rodrigo Rey Rosa und Eduardo Halfon.

Bereits Titel und Untertitel Diario de una princesa montonera. 110 % Verdad verweisen auf die Hybridität des Werks, das zwischen Tagebuch, Märchen und testimonio oszilliert. Das Tagebuch, die Prinzessin (Märchen) und die 110-prozentige, und daher groß geschriebene, Wahrheit (testimonio) sind Genremerkmale, die sich eindeutig widersprechen. Die Trennung zwischen Referenzialität und Fiktionalität wird auf para- und intratextueller Ebene regelmäßig übertreten und stellt deren Sinnhaftigkeit in Frage.
Perez definiert ihren Text von der ersten Seite an unmissverständlich als Fiktion: „En Almagro es verano y hay mosquitos – y si esto fuera un testimonio también habría cucarachas, pero es ficción –“ (DPM: 9). Doch trotz der zahlreichen Fiktionalitätsversicherungen der Erzählerin ist DPM der ‚autobiographischste‘ aller untersuchten Texte: Mariana Eva Perez wie ihre Protagonistin sind Töchter von Verschwundenen. Die Lebensstationen der Princesa sind identisch mit denen der Autorin, auch wenn diese reichlich ausgestaltet worden sein durften. Obwohl der Name der Autorin innerhalb des Textes nicht erwähnt wird, legen die verkehrten Initialen der Princesa montonera (Mariana Perez) das autorschaftliche Ich offen. Zahlreiche real existierende Personen, Familienmitglieder, Freunde sowie Lektorin Maria Moreno treten namentlich auf. Und obwohl die Autorin auf der Fiktionalität ihrer Aussagen besteht, macht sie gleichzeitig auf die Referenzialität des Dargestellten aufmerksam. Neben dem ‚echten‘ Figurenensemble und genauen Orts- und Zeitangaben gehören hierzu vor allem der Fotobeweis. So gibt es im Buch Fotos von ihren Eltern und ein Bild von ihr mit Néstor Kirchner in der Casa Rosada. Die intermediale Inszenierung stellt einen hohen Grad an Transparenz zur Schau, was ihre Geschichte besonders authentisch wirken lässt.

Während der Text also einerseits von einer starken Selbstreferenzialität lebt, ist er gleichzeitig von Fiktionalitätsversicherungen der Autorin durchzogen. Damit stellt DPM ein nach Doubrovskys Definition autofiktionales Werk par excellence dar (vgl. Doubrovsky 2008 [1993]). Das, was fiktionalisiert wird, ist das Leben der Autorin selbst. Erzählerin, Autorin und Protagonistin sind nicht voneinander zu unterscheiden. Das biographische Material wird zur Schablone für die fiktionale Ausformung, während umgekehrt der Erzähltext (und der Blog) das dargestellte Leben und die Reflexionen der Autorin in Erscheinung treten lassen. Die Princesa ist sich dieses doppelten Pakts mit der Leserschaft durchaus bewusst. Kein Versuch wird unterlassen, Lesende in die Irre zu treiben: „Ustedes saben que mi diario es mayormente ficción, pero lo del queso es Verdad“ (DPM: 133). Mit solchen Kommentaren wird die Konstruiertheit der eigenen Erzählung untermauert und die Vorstellung von der ‚wahren‘ Geschichte in Abrede gestellt.

Perez macht sichtbar, dass die Grenzen des Sagbaren nicht nur mit spezifischen Erinnerungspolitiken und kaum aussprechbaren Gewaltentgrenzungen der Vergangenheit in Zusammenhang stehen, sondern auch den Genres unterliegen, in denen sie artikuliert werden (vgl.: Blejmar 2016: 78). In DPM wird vor allem das Testimonio-Genre herausgefordert. Perez beginnt ihr Buch mit parodistisch-spielerischen Verweisen auf das testimonio, das als verlässlicher Zeuge der Vergangenheit hinterfragt wird („El deber testimonial me llama. Primo Levi, ¡allá vamos!“ (ebd.: 12)) und beendet es mit einer Abwandlung des revolutionären Leitspruchs „Ficción o Muerte“ (ebd.: 211). Hier sei noch einmal an die in Kapitel 1.3 besprochene Bedeutung des testimonio in Lateinamerika erinnert: Das testimonio ist nicht nur ein Narrativ, um von Erlebtem zu erzählen, sondern auch ein Symbol für den Machtkampf um die Deutung der ‚wahren‘ Geschichte. Die „hundertzehnprozentige Wahrheit“  verweist eindeutig auf deren Undarstellbarkeit. Perez’ Buch ist eine Absage an das testimonio als Hüter der großgeschriebenen Wahrheit und als institutionalisiertes Narrativ, das den argentinischen Diskurs um die historische Wahrheit bestimmt. Wie die Autorin betont, beabsichtigte sie den Bruch mit der engen generischen Rahmengebung des testimonios, in das sich ihre Erfahrungswirklichkeit nicht einfügen ließ:

El origen del Diario era no sólo algunas escenas que yo sentía que querían ser contadas, sino también, permanentemente, una reflexión acerca de cómo hablar sobre la cuestión testimonial. [...] [Y]o identifico el testimonio, por lo menos en la manera en que está estructurado en la Argentina, con algo que te encorseta muy fuertemente: tiene un orden para contar la historia, hay determinadas palabras para usar (Wajszcuk 2012: o.S.).

Die Abkehr von dem etablierten Narrativ resultiert aus einer sehr persönlichen Erfahrung. Es ist die Erzählerin selbst, die das testimonio nicht mehr erträgt: „[S]oy yo que no tolero otro testimonio más“ (DPM: 127). Für die Artikulation ihres individuellen Erlebens schließen sich Wahrheit und Fiktion allerdings nicht aus. Die Verdad der Prinzessin findet sich weder im testimonio noch im Tagebuch, sondern im „strikten Rahmen der Fiktion“ (Vásquez Rodríguez 2014: 100), für dessen Ausgestaltung das Märchen die zentrale Rolle übernimmt. Das Märchen ist die ideale Vorlage für das autofiktionale Format, denn von Lesenden wird nicht erwartet, der Autorin zu glauben, sondern sich das Gesagte vorzustellen (vgl. Alcarez 2013: 211).

Erschriebene Wahrheiten
Autorin: Lela Weigt

Die Gewaltvergangenheiten des 20. Jahrhunderts sind in vielen lateinamerikanischen Staaten noch immer präsent und gehen einher mit anhaltenden Kämpfen um die Deutungshoheit der Geschichte (batallas de la memoria). Mit der Erinnerung an Militärdiktaturen, Staatsterrorismus und Krieg sowie den gesellschaftlichen Folgen setzt sich neben Politik und Gesellschaft auch die neue und neueste lateinamerikanische Literatur aktiv auseinander.
Am Beispiel von sechs Erzähltexten aus Argentinien und Guatemala zeigt dieser Band, wie sich postdiktatorische Schriftstellergenerationen den Traumata der Vergangenheit aus einer gegenwarts- und zukunftsorientierten Perspektive stellen. AutorInnen beider Länder haben einen innovativen Umgang mit dem Erbe der jüngsten Vergangenheiten gefunden. Sie erschreiben eine Wahrheit zwischen Fiktion und historiographisch-autobiographischem Material, inszenieren das persönliche Erleben einer katastrophalen Vergangenheit als eine kollektiv geteilte Erfahrung und setzen sich aktiv mit erinnerungskulturellen Problemen auseinander.
Die narratologische Analyse bringt die Diskurse der beiden Länder in einen transnationalen Dialog und liefert Erkenntnisse zur Funktion von Literatur innerhalb der Erinnerungskultur. Ausgehend von den untersuchten Romanen und Erzählungen lassen sich drei Erzählmuster definieren, welche ins Verhältnis zu unterschiedlichen erinnerungskulturellen Wirkungspotentialen der Texte gesetzt werden. Abgerundet wird die Untersuchung durch Interviews mit drei der behandelten Autoren, sodass diese – in zugleich aufschlussreicher und unterhaltsamer Form – auch selbst zu Wort kommen.

Programmbereich: Romanistik