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Ein Symbol des Neu-Anfangs: Die Kirschblüte läutet den Frühling ein (Foto: privat)
Nachgefragt bei: Dr. Franziska Thiel

Thiel: „Die Verkürzung des apokalyptischen Denkmodells ist ein Produkt des 20. Jahrhunderts“

ESV-Redaktion Philologie
20.05.2019
Apokalypsen haben gerade in unübersichtlichen, schwierigen Zeiten Konjuktur. Sie bedeuten eben auch: Änderung. Denn jedem (prophezeiten) Ende steht auch ein Anfang gegenüber, der Zuversicht bedeutet. Ein Interview der ESV-Redaktion mit der Germanistin Dr. Franziska Thiel.
Liebe Frau Thiel, ursprünglich ist die Apokalypse ein Dualismus von Ende und Neu-Anfang: Heute wird „Apokalypse“ aber synonym für „Weltuntergang“ gebraucht. Können Sie erklären, wie diese Kupierung entstanden ist?

Franziska Thiel:
Die Verkürzung des apokalyptischen Denkmodells hin zum Weltuntergang ist vor allem ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hat sich durch die ästhetische Aufladung der apokalyptischen Untergangsszenarien in der Kunst diese Verkürzung angedeutet, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann vor allem durch die beiden Weltkriege manifestierte.

‚Apokalypse‘ als Superlativ für katastrophale Ereignisse

In Zeiten dieser großen Krisen wurde das apokalyptische Denkmodell oftmals um den (erlösenden) Neu-Anfang beschnitten. Kunst und Kultur sowie Medien und der öffentliche Diskurs bedienen sich seitdem der ‚Apokalypse‘ als Superlativ für katastrophale Ereignisse. Dies führte zum inflationären Gebrauch des Begriffs, sodass der religiöse Ursprung immer weiter in Vergessenheit gerät.

Was zeichnet die Johannesoffenbarung als Modellfall für apokalyptisches Schreiben aus?

Franziska Thiel: Die Johannesoffenbarung als das letzte kanonische Buch der Bibel erhielt ihren Namen vom ersten Wort im griechischen Original: apokálypsis, was mit ‚Enthüllung‘ oder ‚Offenbarung‘ übersetzt wird. Sie gilt als Ursprung der apokalyptischen Schriften im abendländischen Kulturraum, hat die europäische Geisteshaltung maßgeblich beeinflusst und prägt mit ihren Bildern – beispielsweise von der Hure Babylon oder von den apokalyptischen Reitern – noch immer unsere Vorstellung von Zerfall und Untergang.

Biblische Referenz für das apokalyptische Schreiben

Die Johannesoffenbarung verfügt sowohl auf sprachlicher als auch inhaltlicher Ebene über eine Fülle an Gestaltungsmitteln, die den neutestamentlichen Text auch als einen literarischen ausweisen. So sind vor allem die bildlichen und klanglichen Qualitäten, die visionäre Symbolsprache sowie die Dualismen von Ende und Anfang, Alt und Neu, Gut und Böse zu nennen, die den Text zum Modellfall werden lassen. Auch die Motive und Metaphern der Johannesoffenbarung sind paradigmatisch und (immer wieder) Referenz für das apokalyptische Schreiben.

Apokalyptische Texte entstehen besonders in Zeiten großer Krisen und Umbrüche der Gesellschaft – gibt es Texte aus dem 21. Jahrhundert, die Sie zu den apokalyptischen zählen würden? Immerhin haben wir es weltweit mit großen Umbrüchen zu tun und die Klimakatastrophe kommt drohend näher.

Franziska Thiel: Obwohl das 21. Jahrhundert eher für sogenannte post-apokalyptische Texte bekannt ist, finden sich in der Tat auch apokalyptische. Das 21. Jahrhundert begann mit der prägenden Zäsur 9/11, die sogleich Katalysator für eine Reihe von weiteren großen Umbrüchen darstellt und deren Auswirkung wir noch heute spüren. So sehe ich beispielsweise in Kathrin Rögglas Erlebnisbericht „really ground zero“ (2001) einen apokalyptischen Text, in dem sie die kommentierende Instanz der apokalyptischen Schreibweise gleich selbst einnimmt. Neben den apokalyptischen Darstellungen von Ende und Neu-Anfang in New York verdeutlicht „really ground zero“ eindrücklich die Verbindung des 21. Jahrhunderts zur Apokalypse, nämlich die Verbindung zwischen der modernen Zivilisation, der Faszination am Untergang, sowie deren medialer Kommunikation.

Beispiele für apokalyptische Texte des 21. Jahrhunderts

Diese Verbindung ist es auch, die Philippe Mallones Theatertext „Septembres“ (2009) auszeichnet. Dieser apokalyptische Text besticht ebenfalls durch eine eindrückliche apokalyptische Schreibweise und verhandelt die Auswirkungen der Krisen- und Kriegszustände der arabischen Welt. Auch das gleichnamige Theaterstück kann ich empfehlen, wird doch so die besondere Durchdringung des Apokalyptischen in Wort, Ton und Bild besonders deutlich. Die Verbindung von Wort, Ton und Bild spielt auch in Lars von Triers Film „Melancholia“ (2011) eine zentrale Rolle für die Darstellung des Apokalyptisch-Erhabenen und stellt für mich somit ebenfalls ein Beispiel für einen apokalyptischen Text des 21. Jahrhunderts dar, in dem mit der Musik von Richard Wagner und einer eigentümlichen Bildsprache die Ästhetisierung des Untergangs opulent widergegeben wird.

Welchen apokalyptischen Text können Sie unseren Lesern und Leserinnen empfehlen?

Franziska Thiel: Neben den bereits genannten Texten aus dem 21. Jahrhundert empfehle ich vor allem die Klassiker, in denen das Modell der Apokalypse auf spannende Weise transformiert und aktualisiert wird; so zum Beispiel vom Ende des 18. Jahrhunderts Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ und aus dem 19. Jahrhundert Richard Wagners „Götterdämmerung“. Eindrucksvolle apokalyptische Texte des 20. Jahrhunderts sind u. a. Thomas Manns „Doktor Faustus“, Claude Simons „La Route des Flandres“ und Paul Austers „In The Country of Last Things“.

Auch Ludwig Meidners gemalte „Apokalyptische Landschaften“ wirken noch immer wie aktuelle Zerrbilder unserer Zeit, und Karl Kraus’ Dramentext „Die letzten Tage der Menschheit“ ist weiterhin ein zeitloses Beispiel dafür, wie sich die Menschheit selbst abschafft.
Wer eher Lyrik bevorzugt, dem sei Kurt Pinthus’ Anthologie „Menschheitsdämmerung“ empfohlen sowie T.S. Eliots „The Waste Land“ oder „The Hollow Men“.

Zur Autorin
Dr. Franziska Thiel, geboren in Berlin, studierte an der Universität Leipzig Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Ost- und Südosteuropäische Geschichte. Sie arbeitete am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Leipzig als Wissenschaftliche Hilfskraft und an der Université de Fribourg (Schweiz) als Assistentin in der Literaturwissenschaft. Sie promovierte im Cotutelle de Thèse-Verfahren an den Universitäten Leipzig und Fribourg. Für ihre Dissertation erhielt sie 2018 den Vigenerpreis der Université de Fribourg.

Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes

von Dr. Franziska Thiel

Die komparatistische Arbeit beleuchtet die Darstellung der Apokalypse im 20. Jahrhundert. Auf welch kreative und komplexe Weise die verschiedenen Darstellungsmittel und Künste untereinander kommunizieren, wird an unterschiedlichen Texten der Weltliteratur und an ausgewählten Beispielen der Kunst offenbart.

Ausgehend von der Namensgeberin des endzeitlichen Denkmodells, der „Johannesoffenbarung“ aus dem Neuen Testament, geht die Studie der Frage nach, was Apokalypse bedeutet und was diese als ‚Vorlage‘ für eine künstlerische Gestaltung auszeichnet. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Apokalypse als Darstellungsform im Kontext der Weltkriege in der Kunst im Allgemeinen und in der Literatur im Besonderen geworfen.
Die Textanalysen geben exemplarisch Einblick in die Wirkungsgeschichte und den Wandel des apokalyptischen Denkmodells in der Kunst sowie in den Wandel religiöser Muster der Apokalypse und in mögliche Abweichungen, Transformationen, Neugestaltungen und Wiederbelebungen.

 


(ESV/vh)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik