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194.289 Klagen nach dem SGB II: Die Klagewelle der Hartz-IV-Reform hält weiter an (Foto: MARCELO/Fotolia.com)
Entschädigung

Überlange Gerichtsverfahren: Was lange währt…

ESV-Redaktion Recht
22.09.2015
Bei überlanger Verfahrensdauer können Betroffene Entschädigung verlangen – für materielle und immaterielle Schäden. Wann Verfahren „unangemessen" lang sind, ist dabei Auslegungsfrage.
Acht Jahre lang Warten auf den Richterspruch – so lange dauerte ein Verfahren vor dem Sozialgericht Cottbus, bei dem ein Arbeitnehmer um die Anerkennung seiner Krankheit als Berufskrankheit kämpfte (Az: L 37 SF 65/12 EK U).

Überlange Gerichtsverfahren – vor allem in der Sozialgerichtsbarkeit – sind in Deutschland keine Seltenheit. Dies gilt spätestens seit der Arbeitsmarktreform Hartz IV. Zwar wurde die Reform bereits vor einem Jahrzehnt, im Jahr 2005, durchgeführt, doch noch immer machen Klagen auf und wegen der Grundsicherung für Arbeitssuchende den Großteil der Sozialgerichtsverfahren aus.

194.289 Klagen nach dem SGB II zählte die Bundesagentur für Arbeit im Monat August 2015. In Brandenburg beispielsweise waren im Jahr 2014 über 60 Prozent der Sozialrechtsverfahren Hartz-IV-Klagen. Rund 550 Fälle landen dort pro Jahr und Sozialrichter auf den Schreibtischen. Der Hartz-IV-Klagewelle tritt ein weiterer Faktor hinzu: Die Gerichte beklagen sich über starke personelle Unterbesetzung. Zwar sind derzeit 76,5 Richter an Brandenburgs Sozialgerichten tätig, so die Auskunft des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg gegenüber der Zeitung Potsdamer Neueste Nachrichten. Die Pensionierungswelle aber führt zu weiterem personalen Engpass.

Gründlichkeit hat seinen Preis

Aber liegt es nun an der Überlastung der Gerichte durch Hartz-IV-Klagen oder am personalen Missstand – manchmal ist auch einfach der besonders gründliche Richter Grund für lange Wartezeiten. Überlange Gerichtsverfahren machen das Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und einem beschleunigten Gerichtsprozess (sog. Prozessförderungspflicht) deutlich. Wie weit dürfen Richter zur Schnelligkeit ermahnt werden? Das Gericht benötigt einen Gestaltungsspielraum.

Doch was können Betroffene tun, wenn sie wegen überlanger Verfahren materielle oder immaterielle Schäden, wie Rufschädigung, psychische oder gar körperliche Beeinträchtigungen, erlitten haben? 2011 wurde das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (ÜGG) erlassen. Gemäß § 198 GVG ist ein Verfahrensbeteiligter, der infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet, angemessen zu entschädigen.

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Unangemessene Dauer – angemessene Entschädigung

Wann ist ein Verfahren von „unangemessener Dauer“? Der Begriff ist – wie so häufig im Schadensersatzrecht – auslegungsbedürftig. „Der Gesetzgeber hat keine zeitlichen Obergrenzen für die Dauer von gerichtlicher Verfahren festgelegt“, so Richter am Sozialgericht Gießen, Dr. Robert Horn (Dr. Robert Horn: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren in der Sozialgerichtsbarkeit, in: RV – Die Rentenversicherung, Ausgabe 05.15, S. 148 ff.). Maßgeblich seien die Umstände des Einzelfalls. „Schwierigkeit“ und „Bedeutung“ des Verfahrens sind zu berücksichtigen – sowie auch das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

In dem acht Jahre andauernden Verfahren vor dem Sozialgericht Cottbus hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) angenommen, das Verfahren sei zwar als überdurchschnittlich komplex zu bezeichnen, dennoch hätten die Richter drei Jahre zu lang gebraucht. Und in einem Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin, dass vier Jahre und neun Monate andauerte, nahm das LSG auch bei „allenfalls“ durchschnittlich schwierig zu bezeichnendem Verfahrensgegenstand eine unangemessene Dauer an. Es ging um die Aufhebung einer Rentenbewilligung wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (Az: L 37 SF 82/12 EK R).

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1.200 Euro pauschal als Ersatz

Ist die Unangemessenheit bejaht, spricht das Gesetz den Verfahrensbeteiligten eine angemessene Entschädigung zu. Bei immateriellen Schäden sind das nach dem Gesetz pauschal 1.200 Euro pro Jahr – wobei das Gericht nach oben oder unten hin abweichen kann, stellt sich die Pauschale als unbillig heraus. Bei materiellen Schäden sind diese angemessen zu kompensieren. Zu solchen Schäden zählen beispielsweise der Verlust eines potentiellen Arbeitsplatzes wegen einer verzögerten Umschulung oder die Aufnahme eines Darlehens, wenn sich das Rentenverfahren verzögert.

In dem Fall aus Cottbus beispielsweise, bekam der Betroffene 3.600 Euro zugesprochen, bei der Rentenbewilligung war es 1.300 Euro Entschädigung. Die Lücke im deutschen Rechtsschutzsystem schließe der Entschädigungsanspruch nach dem GVG nur zum Teil, so SG-Richter Horn. Doch sei seine bloße Existenz zumindest indirekt ein Beschleunigungseffekt. (ESV/akb)

Den ganzen Beitrag von Dr. Robert Horn lesen Sie in der Zeitschrift RV – Die Rentenversicherung, Ausgabe 05.2015, S. 148 ff..

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Programmbereich: Sozialrecht und Sozialversicherung