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Grüezi, Servus oder Hallo! – Wie begrüßen Sie sich? (Foto: Cirque of gavarnie, Isabelle Gelle, Collage: Dirk Wächter)
Auszug aus: Plurizentrik

Von Teutonismus, Rauchfangkehrern, Läufern und Gebäck

ESV-Redaktion Philologie
12.01.2022
Je nachdem, ob man sich gerade in Deutschland oder in Österreich aufhält, wird der aktuelle Monat als „Januar“ oder als „Jänner“ bezeichnet.  Eine „Aprikose“ können wir sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz essen, wohingegen die Österreicher eine „Marille“ zu sich nehmen. Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, man denke nur an das „Velo“ in der Schweiz und das „Fahrrad“ in Deutschland.
Es gibt nationale Standardvarietäten, die an bestimmte Nationen und/oder Regionen gebunden sind, z. B. österreichisches oder deutsches Standarddeutsch und Schweizerhochdeutsch.
Sie unterscheiden sich voneinander durch ‚areale Standardvarianten‘. Darunter versteht man sprachliche Einheiten, die in mindestens einem Sprachzentrum der betreffenden Sprache standardsprachlich sind, aber nicht in allen Sprachzentren. Die Termini Austriazismus, Helvetismus und Teutonismus bezeichnen die Standardvarianten Österreichs, der Schweiz und Deutschlands.
Lesen Sie im folgenden Auszug aus dem neuen Buch „Plurizentrik. Einführung in die Standardvariation des Deutschen“ mehr über sprachliche Varietäten und Varianten:

Varietäten wurden im einleitenden Kapitel bereits als sprachliche Subsysteme von „ganzen Sprachen“ umrissen. Sie unterscheiden sich durch Varianten (sprachliche Besonderheiten), die auf allen Ebenen der Sprache anzutreffen sind. Wichtig für die Unterscheidung von Varietäten und Varianten ist, dass erstere ganze Sprachsysteme inklusive Lautung, Wortschatz, Grammatik etc. sind, während es sich bei Letzteren um einzelne sprachliche Einheiten handelt (z. B. Aussprachebesonderheiten, Lexeme o. a.). Leider werden in der Fachliteratur, sogar in manchen Beiträgen der Variationslinguistik, die beiden Termini Variante und Varietät gelegentlich verwechselt. Damit die LeserInnen des vorliegenden Kapitels in Zukunft davor gefeit sind und den Gebrauch dieser Termini kritisch prüfen können, sollen im Folgenden die Begriffe ‚Variante‘, ‚areale Standardvariante‘ und ‚nationale Standardvarietät‘ präzisiert werden.

Ammon (1995: 61 f.) vergleicht den Begriff ‚Variante‘ mit sprachlichen Variablen, die – wie in der Mathematik – verschiedene Werte annehmen können. Diese Werte sind nichts anderes als die Varianten. Die Variable ist eine gemeinsame Eigenschaft mehrerer sprachlicher Einheiten (das Tertium comparationis), z. B. eine bestimmte Bedeutung, die durch verschiedene Ausdrücke (Varianten) benannt wird. Im Folgenden werden sprachliche Variablen mit Großbuchstaben dargestellt, um Verwechslungen mit den Varianten zu vermeiden. Sprachliche Ausdrücke erscheinen kursiv gedruckt und Bedeutungen stehen, wie auch sonst in der Linguistik üblich, zwischen einfachen Anführungszeichen. Im folgenden Beispiel ist die Bedeutung ‚ALLGEMEINE HOCHSCHULREIFE‘ die Variable, der verschiedene Varianten zugeordnet werden:

Bedeutung: ‚ALLGEMEINE HOCHSCHULREIFE‘
Sprachlicher Ausdruck 1: Abitur
Sprachlicher Ausdruck 2: Matura
Diese Variable nimmt zwei Werte an. Die Variante Abitur ist Bestandteil des deutschen Standarddeutsch. In Österreich und der Schweiz wird dagegen Matura verwendet. Wenn die Variable wie in diesem Beispiel eine gemeinsame, allen Varianten zugrunde liegende Bedeutung ist und die Ausdrücke variieren, handelt es sich um onomasiologische Varianten (auch: Ausdrucksvarianten).

Es kommt ebenfalls vor, dass einem Ausdruck, der im gesamten Sprachgebiet gebräuchlich ist, in den verschiedenen Sprachzentren unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet werden. So beispielsweise bei Bäckerei:

Sprachlicher Ausdruck: BÄCKEREI
Bedeutung 1: ‚Arbeitsplatz und Geschäft eines Bäckers/einer Bäckerin‘
Bedeutung 2: ‚Gebäck‘
Das Wort Bäckerei hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Die erste Bedeutung ‚Arbeitsplatz und Geschäft eines Bäckers/einer Bäckerin‘ ist gemeindeutsch. Die zusätzliche Bedeutung ‚Gebäck‘ hat der Ausdruck dagegen nur in Österreich, wo zum Kaffee eine Bäckerei genascht werden kann. Solche Bedeutungsvarianten nennt man semasiologische Varianten. Die Termini für die beiden Typen von Varianten gehen auf die zur Semantik gehörenden Disziplinen der Onomasiologie und der Semasiologie zurück. Erstere geht von Gegenständen oder Sachverhalten aus und fragt nach deren Bezeichnungen (gr. ónoma ‚Name‘). Sie würde etwa herausfinden, dass eine bestimmte Berufsbezeichnung in den verschiedenen deutschsprachigen Nationen Schornsteinfeger, Rauchfangkehrer, Kaminfeger oder Essenkehrer lautet (vgl. Kap. 1). Die Semasiologie geht den umgekehrten Weg: Sie fragt nach den Bedeutungen eines Wortes. Wie viele und welche Bedeutungen hat beispielsweise das Wort Läufer? Die Antwort könnte lauten: 1) ‚Person, die läuft‘, 2) ‚langer, schmaler Teppich‘ und 3) ‚(eine bestimmte) Schachfigur‘.

Nun sind im Rahmen der Plurizentrik nicht alle beliebigen Arten von Varianten von Interesse, sondern nur die Standardvarianten einer Sprache, die regional oder national variieren können. Bisher war häufig vereinfachend von nationalen Varianten oder Nationalvarianten die Rede, obwohl damit genau genommen auch regionale Standardvarianten mitgemeint sind.

Im vorliegenden Buch wird der Terminus (areale) Standardvariante verwendet, der nationale und regionale Standardvarianten zusammenfasst. Standardvarianten haben zwei wesentliche Eigenschaften. Die Adjektive national und regional bzw. areal verweisen auf die Bindung der betreffenden Sprachformen an bestimmte Nationen oder Regionen.

Damit ist gemeint, dass sie in einer oder mehreren Staaten oder Regionen (genauer gesagt in einem oder mehreren Sprachzentren), aber nicht im gesamten Sprachgebiet gelten. Gelten impliziert ihre Standardsprachlichkeit, wodurch sie in der Öffentlichkeit und in formellen Situationen unbeanstandet verwendet werden können. Varianten des Nonstandards sind daher per definitionem ebenso wenig areale Standardvarianten wie sprachliche Einheiten, die im Gesamtgebiet einer Sprache gelten. Im letzteren Fall würde man in Bezug auf die deutsche Sprache von gemeindeutschen Formen sprechen. Ammon definierte 1995 den Begriff ‚nationale Variante‘ wie folgt: ‚Nationale Varianten‘ [...] sind diejenigen Sprachformen, die Bestandteil der Standardvarietät mindestens einer Nation, aber nicht der Standardvarietäten aller Nationen der betreffenden Sprachgemeinschaft sind. Sie müssen zudem Entsprechungen in den übrigen Standardvarietäten der betreffenden Sprachgemeinschaft haben [...]. (Ammon 1995: 70)

Reingehört: Auch Spanisch ist eine plurizentrische Sprache 07.09.2020
Eine Reise durch die Klangwelt des Spanischen
Spanisch ist für schätzungsweise 442 Mio. Menschen ihre Erstsprache. Es wird in 31 Ländern gesprochen und ist damit die am zweithäufigsten gesprochene Sprache der Welt. Was die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher betrifft, liegt Spanien unter den spanischsprachigen Ländern nur auf dem dritten Platz, hier leben ca. 10 % der Sprecherinnen und Sprecher. Das heißt 90% der Menschen mit Spanisch als Erstsprache leben in Hispanoamerika. Die Spanischsprecherinnen und -sprecher leben in Mexiko, gefolgt von Kolumbien. mehr …


Der Hinweis auf die Entsprechungen in den anderen Standardvarietäten zielte darauf ab, dass man überhaupt nur dann von sprachlicher Variation sprechen kann, wenn eine Wahlmöglichkeit zwischen bedeutungsgleichen und funktional identischen sprachlichen Einheiten besteht. Gibt es beispielsweise nur ein einziges Lexem zur Bezeichnung eines Sachverhaltes, kann von sprachlicher Variation keine Rede sein (vgl. dazu auch unten die Begriffe ‚Sachspezifikum‘ und ‚Konstante‘).

Daraus lässt sich folgende Definition für ‚areale Standardvariante‘ (kurz: areale Variante) ableiten: Areale Standardvarianten sind diejenigen sprachlichen Einheiten, die in mindestens einer Nation oder Region, aber nicht im Gesamtgebiet einer Sprache standardsprachlich sind. Sie müssen zudem standardsprachliche Entsprechungen in den anderen Gebieten haben.

Diese Standardvarianten sind also sprachliche Merkmale, an denen man die geographische Herkunft der SprecherInnen erkennen kann. Besonders auffällig sind in diesem Zusammenhang Varianten der Aussprache und der Lexik. Eine Person, die beispielsweise von Velo (‚Fahrrad’) oder Rüebli (‚Karotte’) spricht, ist leicht als SchweizerIn zu erkennen. Jemand, der Wörter wie Jänner (‚Januar‘) oder Pickerl (‚Aufkleber’) verwendet, verrät damit seine österreichische Herkunft und wer von Abitur (‚allgemeine Hochschulreife’) oder Sonnabend (‚Samstag‘) redet, ist als Deutsche(r) identifizierbar. Für die Standardvarianten der drei deutschsprachigen Vollzentren gibt es jeweils eigene Bezeichnungen. So nennt man eine österreichische Variante Austriazismus, ein Helvetismus ist ein Merkmal des Schweizerhochdeutschen und ein Teutonismus ist Bestandteil des deutschen Standarddeutsch. Varianten, die in zwei Zentren gelten, werden dementsprechend benannt. Das Wort Aprikose ist ein Helvetoteutonismus, weil es sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland gilt (es entspricht dem Austriazismus Marille). Um einen Austrohelvetismus handelt es sich bei Nationalrat. Es ist Bestandteil der österreichischen und schweizerischen Standardvarietät und synonym zum Teutonismus Bundestag. In Österreich und Deutschland gilt der Austroteutonismus Reisebus, dem der Helvetismus Autocar entspricht. Nebenbei bemerkt wird der Ausdruck Teutonismus nicht von allen geschätzt, zum einen weil er an den germanischen Volksstamm der Teutonen erinnert, deren männliche Vertreter gern auf eine derb-kräftige Statur reduziert werden, zum anderen weil das Wort Teutone häufig als ironisch-abwertende Titulierung für ‚deutschtümelnde Person‘ oder ‚typischer Deutscher‘ verwendet wird (vgl. Teutonengrill als Bezeichnung für die Urlaubsinsel Mallorca). Dennoch hat sich der Terminus Teutonismus weitgehend durchgesetzt, zumal keine passende Alternative gefunden werden konnte.

Haben wir Sie neugierig gemacht? Dann lesen Sie gern weiter in dem Buch „Plurizentrik. Einführung in die Standardvariation des Deutschen“, das Ende Januar im Erich Schmidt Verlag erscheint.

Die Autorin
Birte Kellermeier-Rehbein studierte Germanistik und Hispanistik und promovierte in germanistischer Sprachwissenschaft zum Thema „Areale Wortbildungsvariation im Standarddeutschen“. Als Mitautorin der ersten Auflage des „Variantenwörterbuch des Deutschen“ verfügt sie über fundierte Kenntnisse der Standardvariation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie unterrichtet germanistische Linguistik an der Bergischen Universität Wuppertal.


Plurizentrik
Einführung in die Standardvariation des Deutschen
Von Dr. Birte Kellermeier-Rehbein
2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2022, 274 Seiten, € 29,95. ISBN 978-3-503-20601-8


„Die Grosskinder gingen in Einerkolonne über das Trottoir.“ - Wenn Sie Muttersprachler/-in des Deutschen sind und diesen Satz trotzdem nicht recht verstehen, ist dies keinesfalls verwunderlich. Unsere Sprache ist nicht überall gleich, nicht einmal die Standardvarietät. Statt eines vermeintlich einheitlichen Hochdeutsch haben sich im deutschsprachigen Raum verschiedene Ausprägungen (Varietäten) entwickelt: deutsches, österreichisches und schweizerisches Standarddeutsch. Jede Varietät enthält spezifische Merkmale (Varianten), die nicht immer für die Sprecherinnen und Sprecher der jeweils anderen Varietäten unmittelbar verständlich sind.
Der Band führt in die Grundlagen der Variationslinguistik ein und präsentiert die Standardvariation im Deutschen. Neben ihrer linguistischen Beschreibung wird ihre Entstehung thematisiert sowie ihre Bedeutung für die persönliche und nationale Identität, ihre Darstellung in Wörterbüchern und ihre Relevanz für den Deutschunterricht. Ein Blick über den Tellerrand auf andere plurizentrische Sprachen rundet die Einführung ab. Die vorliegende zweite Auflage wurde um weitere Entwicklungen der Plurizentrik-Forschung ergänzt und durch neue Daten und Literaturangaben aktualisiert.

 


(ESV/Ln)


Programmbereich: Germanistik und Komparatistik