„Richtiges Schreiben ist eine elementare Kulturtechnik und gehört wie Lesen oder Rechnen zu den Schlüsselqualifikationen“, erklärte die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) bei einer Fachtagung. Sie reagiert damit unter anderem auf den Bildungstrend 2016 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Doch wie können die Lehrkräfte an den Schulen die Kinder noch besser bei der Erlangung der richtigen Rechtschreibung unterstützen?
Lesen Sie dazu einen Auszug aus Barbara Geists Beitrag „Wie Kinder in Rechtschreibgesprächen Schreibungen erklären und wie die Lehrperson sie darin unterstützt“ aus unserem neu erschienenen Buch Rechtschreiben unterrichten:
Rechtschreibgespräche
In sogenannten Rechtschreibgesprächen tauschen sich Kinder untereinander und mit der Lehrperson über Schreibungen aus. Bislang standen in Methodenbeschreibungen und Unterrichtsmodellen zu Rechtschreibgesprächen orthographiedidaktische Fragen im Vordergrund, und das Gespräch wurde zwar als Lernmedium, nicht jedoch als Lerngegenstand betrachtet.
Als Lernmedium flankieren Rechtschreibgespräche im Sinne kurzer Reflexionsgespräche individuelle Arbeitsphasen und können als Ritual am Anfang oder Ende einer Stunde stehen. Die Kinder werden herausgefordert, [...], „ihr aktuelles Können und Wissen der gemeinsamen Reflexion mit der Gruppe zur Verfügung zu stellen“. Rechtschreibgespräche werden als kognitiv hoch aktivierende Settings beschrieben, in denen die Schüler/-innen aufgefordert sind, ihr individuelles schriftstrukturelles Wissen zu verbalisieren und es im Austausch mit anderen zu verteidigen, zu korrigieren und weiter zu entfalten. […]
Dieser Beitrag rückt erstmals das sprachliche Handeln in Rechtschreibgesprächen als Lerngegenstand in den Mittelpunkt, um zu untersuchen, wie die Beteiligten zur Situation – hier dem orthographischen Lernen – beitragen. Der Fokus liegt auf dem schülerseitigen Erklären sowie dem lehrerseitigen Unterstützen. [...]
Empirische Einblicke in das Projekt „Rechtschreibgespräche“
Im Projekt „Rechtschreibgespräche: Kinder zum Austausch über Schreibungen herausfordern“ wurden 2016 in zwölf Klassen (1.–5. Schuljahr) und Kleingruppen Rechtschreibgespräche audiographiert sowie im Zuge einer Pilotstudie in einer Klasse videographiert.
Ein Rechtschreibgespräch beginnt mit der Präsentation des zu untersuchenden Wortes oder Satzes (dem „harten Brocken“). In den vorliegenden Gesprächen stehen drei verschiedene „harte Brocken“ im Mittelpunkt:
– <Räuber>
– <in der kalten Jahreszeid fliegen viele Vögel in Warme Lender.>
– <Goldschatztruhenschloss>
Die Schreibungen 1) und 3) wurden den Kindern korrekt präsentiert. In Einzelarbeit markierten die Schüler/-innen für sich schwierige Stellen, die dann in der Kleingruppe oder im Plenum zusammengetragen wurden. Dieses Vorgehen führt dazu, dass die Schüler/-innen selbst Relevanz herstellen und das Explanandum konstituieren. Schreibung 2) wurde als „Stolperwörtersatz“ mit Fehlern präsentiert. Hier ist zu erwarten, dass die Lehrperson alle Fehler als Explananda im Rechtschreibgespräch zur Sprache bringen möchte.
In den zwölf Projektklassen diente ein Fragenfächer als Strukturierungshilfe des Gesprächs. Bereits ab dem ersten Klassenrechtschreibgespräch lasen die Kinder die Fragen des Fragenfächers selbst vor und wurden somit in die Moderation eingeführt. Es bestand so die Möglichkeit, dass die Schüler/-innen nicht nur durch die Bestimmung schwieriger Stellen im Wort selbst Relevanz herstellten und das Explanandum konstituierten, sondern auch die Erklärung initiierten, abschlossen und/oder die Überleitung übernahmen. In der videographierten Pilotklasse nutzte die Lehrkraft den Fragenfächer nicht, er war ihr aber bekannt. (Für eine ausführliche Beschreibung des didaktischen Arrangements in den Projektklassen vgl. Geist 2017.)
Ausgewählte Ergebnisse
Mehrere Schüler/-innen einer Klasse 1–2 haben das <ä> oder <äu> im Wort <Räuber> als schwierige Stelle markiert und somit u. a. dies als „Aufpassstelle“/Explanandum festgelegt. Im Klassenrechtschreibgespräch fordert die Lehrperson (in diesem Fall die Erheberin der Rechtschreibgespräche) nun dazu auf, zu erklären, warum man „Räuber“ mit <äu> schreibt und setzt somit das von den Kindern markierte <äu> inhaltlich relevant.
Szene I
51 L warum schreib ich‘s nicht mit eu sondern mit ä u?
habt ihr ’nen TIPP?
52 X ich hab gestern n STIER gesehen.
53 L malik.
54 Malik räuber ist von RAUben abgeguckt.
55 L BOAH, ABgeguckt. ist auch n schönes wort. das find ich ähm interessant.
56 Malik un:::d dann benutzt man kei:n e u=u,
weil es sozusagen::,
rauben ist der vorfahre von räuber.
57 L ist DAS mal n toller trick, oder?
den der MAlik euch gesagt hat.
58 mehrere
Schüler rauben
Die Lehrperson setzt einen globalen Zugzwang und fordert zum Erklären des Typs „Erklären-Warum“ auf. Im Anschluss reduziert sie diesen mit der Frage „habt ihr nen TIPP?“. Auf die Äußerung zu einem anderen Thema (Stier gesehen) gehen weder sie noch die anderen Schüler/-innen ein. Die Lehrperson erteilt Malik, der sich gemeldet hat, das Rederecht. Malik bedient den globalen Zugzwang zunächst mit einer nichtübersatzmäßigen Äußerung, kommt aber dem Kernjob, der Durchführung der Erklärung, nach. Mit dem Begriff „abgucken“ (im Sinne eines Werkstattterminus, vgl. Müller 2009; Risel 2004, 59) erklärt Malik seinen Mitschülern, dass das Wort von einem anderen Wort der gleichen Wortfamilie abgeleitet wird, und zeigt ihnen darüber hinaus, dass das Betrachten der Schrift Informationen zur Schreibung bereithält. Die Lehrperson reagiert mit großer Wertschätzung und honoriert Maliks Begriffsarbeit (Zeile 55), wobei sie, bezogen auf das Adjektiv, mit „ähm“ und der Pause ein Überrascht-Sein anzeigt und nach dem passenden Wort sucht.
Malik lässt sich von diesem (teils begeisterten „Boah“, teils zögerlichen „ähm“) Lob nicht unterbrechen, übernimmt erneut die primäre Sprecherrolle und setzt seinen Redebeitrag fort; somit ordne ich das Lob der Lehrperson als lehrerseitige Zuhöreraktivität im Sinne einer Unterstützung ein. Malik erklärt nun in einer übersatzmäßigen Äußerung, warum das „e u“ nicht richtig wäre. Mit dem Wort „Vorfahre“ beschreibt Malik den Wortstamm. Die Analogie zum Familienstammbaum, den biologischen Vorfahren, ist nicht nur für Malik, sondern auch für einige Mitschüler/-innen einleuchtend, wie die Wiederholung des Verbs „rauben“ durch mehrere Schüler/-innen zeigt (Zeile 58). In diesen Äußerungen verwendet Malik die für Erklärungen typische Generalisierung „man“ sowie den kausalen Konnektor „weil“; „räuber“ und „rauben“ dienen ihm als Beispiel. Es handelt sich hierbei um eine solistische Erklärung des Schülers, die die Lehrperson würdigt, indem sie sie als „tollen Trick“ bezeichnet und mit der Nennung seines Namens auf Malik verweist. […]
Fazit
Die analysierten Diskurseinheiten verdeutlichen, dass auch für den Rechtschreibunterricht und insbesondere für die Methode des Rechtschreibgesprächs gilt, dass Erklärpraktiken Lernziel und Lernmedium zugleich sind. Rechtschreibgespräche bieten das Potenzial, dass auch Jobs, die oftmals die Lehrperson übernimmt, von den Lernenden ausgeführt werden. Zudem werden die Schüler/-innen gefordert, übersatzmäßige Beiträge zu leisten und Schreibungen in ihren eigenen Worten und mittels typischer Formen wie Konnektoren „weil, wenn“ und dem generischen „man“ zu erklären. Im Unterschied zu Kotthoff zeigen die ausgewählten Diskurseinheiten, dass es möglich ist, (bereits in der Grundschule) den jeweiligen Phänomenbereich adäquat und interaktiv zu erschließen. Die Schreibung wird in den Mittelpunkt gerückt und der Erklärprozess wird gemeinsam gestaltet, statt die Erklärfunktion dem Material bzw. seiner Bearbeitung zu überlassen.
Die Qualität der Erklärungen von Schreibungen steht und fällt mit der adäquaten Gegenstandserfassung und somit der Professionalität der Lehrperson. Zu dieser zählen das Wissen über Orthographie, die Auswahl und Anwendung von Lehr-Lern-Materialien, die Einstellungen zum Gegenstand und die Handlungskompetenz. Außerdem ist sie gekennzeichnet durch das lehrerseitige Zutrauen, sich mit Lernenden über Schreibungen austauschen zu können, das bewusste Setzen globaler Zugzwänge, die gezielte Unterstützung schülerseitiger Beiträge und Neugierde für Erklärungsansätze und Formulierungen der Kinder.
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Rechtschreiben unterrichten Herausgegeben von Prof. Dr. Susanne Riegler und Prof. Dr. Swantje Weinhold
Schülerinnen und Schüler aller Schulstufen weisen wiederkehrend schlechte Rechtschreibleistungen auf. Dadurch rücken verstärkt der Rechtschreibunterricht und das Wissen und Handeln der unterrichtenden Lehrkräfte in den Fokus der orthographiedidaktischen Forschung. Allerdings wurden bislang weder die tatsächliche Praxis des Rechtschreibunterrichts noch Wissen und Überzeugungen der Lehrpersonen hinreichend erforscht.
Susanne Riegler ist Professorin für Grundschuldidaktik Deutsch an der Universität Leipzig und arbeitet zurzeit gemeinsam mit Prof. Dr. Maja Wiprächtiger-Geppert, FHNW an einem Projekt zu „Professionellen Lehrerkompetenzen und Unterrichtshandeln im Lernbereich Rechtschreibung (Profess-R)“.
Swantje Weinhold ist Professorin für Deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Leuphana Universität Lüneburg und forscht derzeit im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zur phasenübergreifenden Professionalisierung (angehender) Rechtschreiblehrkräfte.
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(ESV/ln)