
Weitbrecht/Koch: „Das Interesse an Heiligkeit ist eine Epochensignatur des Mittelalters“
Lesen Sie hier ein Interview mit zwei der Autorinnen, Frau Prof. Dr. Julia Weitbrecht und Frau Prof. Dr. Elke Koch.
Sehr geehrte Frau Weitbrecht, sehr geehrte Frau Koch, Sie betonen in dem Buch die inhaltliche Formenvielfalt und Variabilität legendarischen Erzählens in Spätantike und Mittelalter: Es existieren nicht nur Märtyrer- oder Bekennerlegenden, nicht nur Askese oder Jungfräulichkeit sind Ausdruck der Heiligkeit, sondern es gibt viele verschiedene Formen und Überschneidungen unterschiedlicher Heiligkeitsmodelle. Lässt sich dennoch eine Tendenz ausmachen, welche Heiligkeitsmodelle im Mittelalter besonders populär waren?
Julia Weitbrecht / Elke Koch: Vielleicht kann man eher allgemeiner formulieren, dass insgesamt das Interesse an Heiligkeit und an den unterschiedlichen Möglichkeiten, wie diese gefasst werden kann, eine Epochensignatur des Mittelalters ist. Dieses Interesse ist dynamisch, d. h. es werden nicht nur die aus der Spätantike bekannten und mit hoher Geltung ausgestatteten Modelle, die die Apostel, Märtyrer und Asketen repräsentieren, weiter rezipiert und entwickelt, sondern es werden dabei auch neue Konzepte geprägt, wie das der Brautschaft Christi. Welche Heiligkeitsmodelle besonderes Interesse finden, hängt stark davon ab, welche Zeit und welches Umfeld oder Milieu man betrachtet.
Die drei Sektionen
Das Buch ist in drei „Sektionen“ gegliedert. Mit welchen Themen und narrativen Ausgestaltungen von hagiographischen Erzählungen befasst sich der Band im Einzelnen?
Julia Weitbrecht / Elke Koch: Die drei Sektionen bilden ab, dass es uns darum geht, mit dem Buch einen Vorschlag zur Methodik der Erforschung legendarischen Erzählens vorzulegen. Dazu gehört auch, dass wir uns mit einigen in der Forschung vorgeprägten Perspektiven und Definitionen auseinandersetzen. Legenden werden häufig als religiös überformtes biographisches oder historiographisches Genre aufgefasst.
Wir stellen dem in der ersten Sektion eine andere Perspektive gegenüber, indem wir von der Heiligenverehrung ausgehen und danach fragen, wie das Erzählen von der Vorstellung geprägt ist, dass diese Personen Heil vermitteln. Dies führt systematisch zu anderen Akzentsetzungen: Wir untersuchen den Jenseitsbezug, das Konzept der Kontaktheiligkeit und die Verknüpfung von Orten und Heiligen, die durch ein politisches Interesse motiviert sein kann.
Die zweite Sektion nimmt in den Blick, wie maßgebliche Konzepte von Heiligkeit wie Martyrium, Jungfräulichkeit und Askese, die in der formativen Phase der Spätantike emergieren, in der mittelalterlichen Legendarik variiert und weiterentwickelt werden. Wir verstehen dies als langwellige Prozesse, in denen Erzähloptionen entstehen und immer wieder neu aktualisiert und kombiniert werden.
In der dritten Sektion fassen wir den Blick noch enger auf die Kontexte, in denen Legenden wiedererzählt und aufgezeichnet werden. An ausgewählten Fallbeispielen (Ulrich von Augsburg, Elisabeth von Thüringen und Maria Magdelena in spätmittelalterlichen Frauenklöstern) wird untersucht, wie legendarisches Erzählen durch durchaus unterschiedliche Voraussetzungen und Interessen im direkten Umfeld der Textentstehung und -überlieferung geprägt ist.
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Sie schreiben, dass Sie die lateinische Tradition von Heiligenerzählungen stärker als bislang in der Forschung üblich berücksichtigt haben. Welche Rolle spielt der historische Kontext bei der Entstehung von Heiligenerzählungen?
Julia Weitbrecht / Elke Koch: Die diachrone Perspektive ist ein Grundprinzip unserer Herangehensweise. Wir verstehen die Vielgestaltigkeit legendarischen Erzählens als eine Schichtung unterschiedlicher Möglichkeiten, Heiligkeit darzustellen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedenen Sprachräumen.
Auch bezogen auf einzelne deutschsprachige Heiligenerzählungen ist uns wichtig, dass diese immer schon eine Textgeschichte voraussetzen und nur vor dem Hintergrund der jeweils vorausgehenden, in der Regel lateinischen Texttradition adäquat verstanden werden können. Durch die Analyse von Textreihen und den Vergleich mit anderen, früheren Fassungen wird erkennbar, wie legendarisches Erzählen funktioniert: als kontextbezogene Auswahl und Anpassung von im Laufe der Tradition entstandenen Mustern und Topoi.
Funktionen der Legende
Welche Funktionen konnten die Legenden in Spätantike und Mittelalter haben? Gibt es Korrelationen zwischen inhaltlicher und textlicher Form (z. B. Predigt, Legendensammlung) und der jeweiligen Funktion der Legenden?
Julia Weitbrecht / Elke Koch: Legenden hatten immer mehrfache Funktionen, auch wenn manche, etwa für ein Kanonisationsverfahren, zu einem bestimmten Zweck verfasst wurden. Die immense Verbreitung dieser Texte wäre anders kaum zu erklären. Dabei spielt eine Rolle, dass Heilige nicht nur als Vorbilder für ein gottgemäßes Leben galten, sondern auch Identifikation, Legitimation und symbolisches Kapitel stiften konnten. Die Funktionen sind erkennbar für die inhaltliche und formale Gestaltung von Legenden relevant.
Es war zum Beispiel für uns überraschend, wie stark manche Versionen der Legenda Aurea dadurch geprägt sind, dass diese Sammlung als Handreichung für Prediger angelegt wurde. Zur Vielfalt der mittelalterlichen Legendarik tragen auch die unterschiedlichen Überlieferungsformen und ihre pragmatische Rahmung erheblich bei, was noch weiter untersucht werden sollte.
Der Band ist von einem Autorenkollektiv von sieben Autorinnen und Autoren verfasst worden. Wer gehört diesem Kollektiv und wie ist es zu dieser ungewöhnlichen gemeinsamen Autorschaft gekommen?
Julia Weitbrecht / Elke Koch: Als weitere Autorinnen und Autoren haben Maximilian Benz, Andreas Hammer, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl und Johannes Traulsen am Buch mitgearbeitet. Die Förderung der Gruppe durch die DFG als Nachwuchsnetzwerk hat es uns ermöglicht, uns über mehrere Jahre regelmäßig zu treffen und den gemeinsamen Ansatz zu entwickeln.
Dazu hat auch der Austausch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die als Gäste teilnahmen, beigetragen. Der intensive Diskussionsprozess war die Grundlage, um den methodischen Zugang, die übergreifende Systematik und die Anlage der einzelnen Kapitel zu entwickeln, und uns war es wichtig, diesen Prozess mit der kollektiven Autorschaft auch im Ergebnis, unserem gemeinsamen Buch, abzubilden.
Die Autorinnen und Autoren |
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Legendarisches Erzählen von Julia Weitbrecht, Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nowakowski, Stephanie Seidl und Johannes Traulsen Legenden gelten gemeinhin als Schemaliteratur, die mit einem begrenzten Arsenal an Erzählbausteinen das Leben heiliger Personen darstellt. Dabei verfügt die mittelalterliche Hagiographie über eine Vielzahl an Möglichkeiten des Erzählens von Heiligkeit. Dieses Buch nimmt daher die Pluralität und Variabilität der im Mittelalter existierenden Optionen in den Blick, indem es Spezifika des legendarischen Erzählens als ein Wechselverhältnis von variablen Heiligkeitsmodellen und flexiblen religiösen Funktionalisierungen beschreibt. Den Ausgangspunkt bilden die deutschsprachigen Heiligenerzählungen des Mittelalters, doch eröffnen sich im Horizont der lateinischen Vorlagen Perspektiven auf langwellige Prozesse der Genese und Transformation von Heiligkeitsmodellen seit der Spätantike. Der Band legt damit ein methodisches Angebot für künftige Arbeiten zum legendarischen Erzählen vor, um dessen charakteristische Vielfalt weiter zu erschließen.
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Programmbereich: Germanistik und Komparatistik