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Beleidigungen sind Teil unseres Alltags. Manche von ihnen sind harmlos, andere dagegen diffamierend und Grund für rechtliche Konsequenzen (Foto: pathdoc/stock.adobe.com)
Auszug aus: „Die Beleidigung. Diskurse um Ehre, Respekt und Integrität im Kontinuum zwischen Alltag und Recht“

Wer Worte wählt, die wehtun: Was eine Beleidigung ausmacht

ESV-Redaktion Philologie
18.01.2023
„Sie Idiot!“ – solche und ähnliche Ausrufe haben Sie bestimmt schon einmal mitbekommen, vielleicht sogar selbst formuliert. Beleidigungen wie diese prägen unseren Alltag mehr, als Sie eventuell vermuten. Doch was genau macht eine Beleidigung aus, wodurch wird sie charakterisiert und welche Konsequenzen kann sie mit sich bringen?
Unsere Autorin Annika Frank widmet sich diesen und weiteren Fragen, indem sie neben funktional-pragmatischen auch juristische Aspekte untersucht. Damit verknüpft sie zwei Bereiche, die so noch nie miteinander in Verbindung gebracht wurden, um den alltäglichen Beleidigungsbegriff für außerinstitutionelle wie für rechtliche Zusammenhänge schärfer zu konturieren.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus dem neu im Erich Schmidt Verlag erschienenen Band „Die Beleidigung. Diskurse um Ehre, Respekt und Integrität im Kontinuum zwischen Alltag und Recht“. Darin geht es um die Frage, wie sich unterschiedliche Beleidigungen kategorisieren lassen und was diese Kategorien ausmacht.

 
Kategorie 1.1: Rassistische Beleidigungen

Rassistische Beleidigungen basieren nach Hoffmann/Frank (2022, 133 ff.) auf einer polarisierenden Gruppenbildung, bei der der Sprecher einer positiv zu bewertenden Wir-Gruppe, der Hörer einer negativ zu bewertenden Die-Gruppe angehört. Der Fokus des Sprechers liegt immer auf solchen Charakteristika, die die Gruppen unterscheiden und voneinander abgrenzen (Ankereigenschaften sind z. B. saliente wie Pigmentierung und Körpergestalt oder nicht oberflächlich sichtbare wie Herkunft, Kultur etc.); Gemeinsamkeiten werden ausgeblendet. Auch sind vor allem die negativen Eigenschaften der Die-Gruppe an deren ‚Rasse‘ geknüpft, positive Eigenschaften der Wir-Gruppe sind vor allem ‚das Normale‘ und nicht unbedingt rassebezogen ausgeflaggt. Vielfach sind rassistische Ressourcen nicht direkt an der sprachlichen Oberfläche erkennbar.

[…]

Zu typischen sprachlichen Mitteln zählen pejorative Bezeichnungen für bestimmte Nationalitäten/Ethnien. So sagte beispielsweise Joachim Herrmann (CSU) in der Fernsehsendung hart aber fair im Kontext der Diskussion der ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 Folgendes:

B1        „Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger, der den meisten                            Deutschen wunderbar gefallen hat.“ (zit. n. Spiegel Online, 01.09.2015)

Mit seiner Äußerung wollte Herrmann eigentlich hervorheben, dass Integration in Deutschland gut funktionieren kann und die Deutschen nicht grundsätzlich rassistisch sind, allerdings missglückt dies, was insbesondere in der Bezeichnung Neger begründet liegt:
 
Im heutigen Sprachgebrauch [ist Neger eine] als stark herabwürdigend geltende Fremdbezeichnung für Schwarze, Afroamerikaner, Afrodeutsche usw. Ältere Verwendungen des Wortes zeigen häufig keine abwertende Absicht. (DWDS, Eintrag: Neger)
 
Auch Herrmann sollte wissen, dass Neger heute (Stand: 2021) ein konventionalisiertes Beleidigungswort ist, das seine Äußerung zu einer Beleidigung macht: Der Schlagersänger Roberto Blanco wird auf Basis salienter Merkmale der Gruppe der Neger (Hautfarbe/Pigmentierung: Schwarz) zugeordnet, die als Die-Gruppe von der Wir-Gruppe der Deutschen (Hautfarbe/Pigmentierung: Weiß) abzugrenzen ist. Im Hauptsatz erfolgt eine Charakterisierung Blancos mithilfe einer komplexen Kopula-Konstruktion: Mit immer ein wunderbarer Neger wird Blanco als ein besonders gutes Mitglied seiner ‚Rasse‘ klassifiziert, wobei das (Frequenz-)Adverb immer diese Klassifikation als dauerhaft/beständig markiert, was es scheinbar hervorzuheben gilt. Diese positive Attribuierung Blancos weist nämlich gleichzeitig darauf hin, dass es auch (viele) nicht gute bzw. schlechte Mitglieder der Rasse Neger gibt. Diese vermeintlich positive Bewertung Blancos liegt u. a. darin begründet, dass die Deutschen als Wir-Gruppe diese Bewertung teilen, wie im Relativsatz u. a. durch die Wiederholung von wunderbar – diesmal als Adverb zu gefallen – deutlich wird. Interessant ist, dass die Wir-Gruppe der Deutschen eine Beschränkung erfährt: den meisten Deutschen, wodurch wiederum Raum gelassen wird für diejenigen, die Mitglieder der ‚Rasse der Neger‘ grundsätzlich ablehnen. Indikator der Polarisierung in Wir- und Die-Gruppe ist hier also die Hautfarbe (Pigmentierung), wobei die epistemische Zuschreibung zur Wir-Gruppe die „positiven Eigenschaften Weißer: Zivilisiertheit, abendländische/hochstehende Kultur, hohe Intelligenz, europäisches Aussehen …“ (Hoffmann/Frank 2022, 148) umfasst. Die Die-Gruppe hingegen verfügt über eben diese Eigenschaften nicht.

[…]

Nachgefragt bei Dr. Annika Frank 16.12.2022
„Analysekriterien für das Alltagsverständnis von Beleidigungen findet man nicht in einem Wörterbuch“
Beleidigungen prägen unseren Alltag. Doch wie lassen sie sich definieren und welche Konsequenzen können sie nach sich ziehen? Diese Fragen werden in einem neu im Erich Schmidt Verlag erschienenen Band geklärt. Wir haben mit der Autorin Dr. Annika Frank gesprochen, die Beleidigungen sowohl aus linguistischer als auch aus juristischer Perspektive beleuchtet. mehr …


Kategorie 1.2: Sexistische Beleidigungen

Sexistische Beleidigungen beziehen sich auf Geschlechtseigenschaften in einem weiteren Sinne; auch homophobe Äußerungen können hier verortet werden. Viele Bezeichnungen sind binär nach Geschlecht für entweder männliche oder weibliche Adressaten verwendbar, indem sie z. B. auf primäre Geschlechtsmerkmale des Adressaten (z. B. Fotze, Pimmel), deren Funktionen bzw. zugeschriebene Handlungen (z. B. Bückstück, Wichser) verweisen. Der Adressat wird auf diese reduziert. Häufig dienen zudem Geschlechterstereotype und Rollenklischees als Ausgangspunkt, worin auch die für Beleidigungen typischen Herabsetzungs- bzw. Ausgrenzungspotentiale angelegt sind.

Die deutsche Profitennisspielerin Julia Görges wird bei einem WTA-Turnier vom gegnerischen Trainer Christian Zahalka während einer Spielunterbrechung sexistisch beleidigt. Görges‘ Gegnerin Misaki Doi hatte im bisherigen Spielverlauf wenig Chancen gegen die starken Aufschläge der Deutschen, was Zahalka wie folgt kommentiert:

B3        „Ich weiß, es ist so, als würde man gegen Karlović mit großen Brüsten spielen.               Das kann sie nicht die ganze Zeit durchhalten.“ (zit. n. Welt, 18.10.2019)

Görges‘ spielerische Leistung erkennt der gegnerische Trainer Zahalka einerseits an, indem er Görges mit Ivan Karlović vergleicht (als), einem kroatischen Tennisprofi, der für seinen starken Aufschlag bekannt ist. Allerdings schränkt Zahalka diesen Vergleich ein: Im Gegensatz zu Karlović könne Görges die starke Form nicht über das ganze Spiel aufrechterhalten, weil sie große Brüste hat. Görges wird insofern geschlechtsbezogen abgewertet, wobei Bezug genommen wird auf saliente, sekundäre Geschlechtsmerkmale, die für das Tennisspiel an sich nicht ausschlaggebend sind. Sicherlich gibt es körperliche/physiologische Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Tennisprofis, die Einfluss auf Leistungen haben können; allerdings könnte man hier wohl eher mit der Körpergröße, Muskelmasse o. Ä. argumentieren. Zuletzt stellt sich die Frage, ob in einem Frauenturnier überhaupt Vergleiche mit männlichen Spielern vonnöten sind, wenn nicht nur mit dem Ziel, sexistisch zu beleidigen.

[…]


Kategorie 1.4: Somatische Beleidigungen

Bei somatischen Beleidigungen stehen körperliche Merkmale des Adressaten im Fokus. Dabei können die physische Statur oder auch psychische/kognitive Dispositionen als Ankerpunkte genutzt werden, wie z. B. bei Zwerg, Missgeburt, Spasti oder auch fett, dumm, behindert u. v. m. Inbegriffen ist häufig ein metaphorischer Vergleich: Der Adressierte ist/verhält sich wie ein geistig Behinderter, eine Psychopathin …; abgerufen werden gruppenbezogene Vorurteile und darin vor allem auch eine bildliche Vorstellung.

Eine wichtige Rolle spielt, was in einer Gesellschaft als „normal“ oder „positiv“ gilt. In Bezug auf das äußere Erscheinungsbild ist die deutsche Kultur u. a. von einem Schönheitsideal geprägt, das schlanke Körperstaturen idealisiert und auch als „normal“ bzw. erwünscht konzeptualisiert. Wer dieses Ideal in einer Gesellschaft nicht erfüllt, kann hierauf bezogen beleidigt werden. Ein Twitterpost der Politikerin Ricarda Lang (Bündnis90/Die Grünen) zur Seenotrettung wird wie folgt kommentiert:

B7        „Du solltest weniger essen und Sport machen. Friss die Hälfte dann wird das                   was.“ (zit. n. Frankfurter Rundschau, 25.03.2019)

Zunächst wird ein Ratschlag an die Politikerin formuliert: Mithilfe des Modalverbs sollen wird für den Aktanten „ein Ziel gesetzt (durch Andere, Norm, Institution), das ihm zur Realisierung aufgegeben ist“ (Hoffmann 2016, 318). Das Ziel ist hier die Gewichtsreduktion bei der Adressatin (weniger essen + Sport machen), das der Verfasser der Nachricht in Anlehnung an gesellschaftliche Normen/Normalitäten formuliert: Das gegenwartsgesellschaftliche Schönheitsideal u. a. in Deutschland präferiert Schlankheit und Fitness. Der Modus Konjunktiv II weist darauf hin, dass das formulierte Ziel (Gewichtsreduktion) eine Bedingung für eine bestimmte Folge aufstellt, deren Eintritt allerdings ungewiss ist; dadurch wird das Dicksein auch als vorgeblich unveränderliche Eigenschaft klassifiziert. Das wird aufgegriffen, indem zunächst das zu übernehmende Ziel als Aufforderung wiederholt wird (Modus: Imperativ), sodann eine positive Folge der Zielrealisierung angegeben wird (dann wird das was) wobei unklar ist, worauf die Objektdeixis verweist. Diese Vagheit der Objektdeixis führt m. E. dazu, dass die im komplexen Konditionalgefüge gesetzte Bedingung ‚Gewichtsreduktion‘ eine obligatorische Grundlage ist, um in irgendeiner Form die Chance auf eine positive Zukunft bzw. ein positives Image zu bekommen. Die Politikerin wird reduziert auf ihr vermeintlich nicht den gesellschaftlichen Schönheitsidealen entsprechendes äußeres Erscheinungsbild.

[…]


Sie sind neugierig, wie es weitergeht? Dann lesen Sie den vollständigen Beitrag in dem neu erschienenen Band von Annika Frank.

 
Zur Autorin

Annika Frank studierte Angewandte Sprachwissenschaften in Bachelor und Master an der TU Dortmund. Derzeit ist sie als Lehrende im Weiterbildungszertifikat „Deutsch als Zweitsprache“ an der TU Dortmund tätig.
In ihrer Forschung befasst sie sich stets mit aktuellen, gesellschaftlichen Themen, zum Beispiel der Sprachverwendung im Fußball oder eben der Beleidigung, um so die Bedeutung linguistischer Forschung auch für Alltag/Gesellschaft aufzuzeigen bzw. ihre Ergebnisse nutzbar zu machen. Nebenberuflich war sie lange Zeit journalistisch tätig, sodass sie eine Affinität zu tagesaktuellen Themen beibehalten hat.


Die Beleidigung. Diskurse um Ehre, Respekt und Integrität im Kontinuum zwischen Alltag und Recht
Von Annika Frank

Beleidigungen gibt es in jeder Kultur, jedes Mitglied einer Gesellschaft hat schon einmal Erfahrungen mit Beleidigungen gemacht und erkennt sie, wenn sie auftreten. Nichtsdestotrotz ist es gar nicht so einfach, ‚die Beleidigung‘ in Form, Funktion und Wirkung genau zu definieren.
In ihrem interdisziplinären Werk gelingt Annika Frank genau dies, indem sie funktional-pragmatische und juristische Perspektiven miteinander verknüpft und die Beleidigung als sprachliche Handlung anhand eines Korpus alltäglicher Beleidigungserzählungen und im Vergleich zu juristischen Fällen von Beleidigung reflektiert. Auf dieser Basis kann die Autorin das Handlungsmuster der Beleidigung funktional beschreiben und typische sprachliche Mittel (Lexik und syntaktische Strukturen) dezidiert charakterisieren sowie ferner eine quantitative Studie zur Bewertung von Ausdrucksformen vorlegen. So kann das Werk den alltäglichen Beleidigungsbegriff für außerinstitutionelle wie für rechtliche Zusammenhänge schärfer konturieren.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik