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Die spanisch- und portugiesischsprachigen Länder Nord- und Südamerikas werden unter ,Lateinamerika‘ zusammengefasst (Foto: Gstudio – stock.adobe.com)
Auszug aus: „Einführung in die Lateinamerikastudien. Ein Handbuch“

Wie Humangeographie auf die gesellschaftlichen Vorstellungen und öffentlichen Diskurse Lateinamerikas hinweist

ESV-Redaktion Philologie
01.03.2023
Lateinamerika: ein Sammelbegriff für alle hispanophonen und lusophonen Länder des nord- und südamerikanischen Kontinents. Die wissenschaftliche Forschung, die sich damit befasst, steht vor der Herausforderung, die diversen Disziplinen der Lateinamerikastudien herauszustellen und dennoch die interdisziplinären Verknüpfungen nicht außen vor zu lassen.

Unsere Herausgeberin Miriam Lay Brander geht in ihrem Handbuch u. a. der Frage nach, ob man überhaupt von „dem Lateinamerika“ sprechen kann. In zwölf Kapiteln wird eine Spannbreite verschiedenster Forschungsfelder der Lateinamerikastudien, wie die soziologische Lateinamerikaforschung oder die Friedens- und Konfliktforschung, aufgezeigt.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus Miriam Lay Branders neu im Erich Schmidt Verlag erscheinendem Band „Einführung in die Lateinamerikastudien. Ein Handbuch“. Darin stellen Rosa Philipp und Andrea Käsbohrer die Humangeographie als eine Teildisziplin der Lateinamerikastudien vor.

Seit drei Jahrzehnten steht Lateinamerikas größte Kohlemine El Cerrejón im Zentrum sozio-ökologischer Konflikte (Filmtipp: Das gute Leben). Die in La Guajira im nordöstlichsten Teil Kolumbiens gelegene Mine hat sozial-ökologische Ungleichheiten verursacht. Diese drücken sich in der Veränderung der Kontrolle über und Verfügbarkeit von Land und Wasser aus, welches in der Halbwüstenregion durch die klimawandelbedingte Desertifikation ohnehin knapp ist. Zudem wurden durch den Abbau von Kohle Land und Wasser verschmutzt und die Verfügungsrechte der lokalen Bevölkerung über Ressourcen verletzt. Vor allem ist die indigene Gruppe der Wayúu von der Mine betroffen, da der Bevölkerung der Zugang zum Wasser und damit ihre Lebensgrundlage genommen wurde. Die Wayúu leisteten Widerstand gegen die Mine, um ihre traditionellen Lebensweisen und Rechte, die sie Wasser als politischem Akteur zuschreiben, zu verteidigen. Dies hat dazu geführt, dass die Aktivist*innen von paramilitärischen Gruppen bedroht werden, weil diese die indigene Gruppe der Wayúu als Gegner*innen von Entwicklung und Fortschritt betrachten (Ulloa 2020b: 7).

Die Konflikte um die Mine El Cerrejón sind ein emblematisches Beispiel für aktuelle Umweltkonflikte (→ Kap. 7.2.3) auf dem lateinamerikanischen Kontinent. […]

Fragen um Inwertsetzung von Ressourcen und Zugang zu Raum, wie sie im Konflikt um die Cerrejón-Mine eine Rolle spielen, gehören zu den Themen, mit denen sich die Humangeographie beschäftigt. Bevor dieses Beispiel vertieft und auf weitere Themenfelder eingegangen wird, führt das vorliegende Kapitel zunächst in die Geographie als wissenschaftliche Disziplin ein. Die wissenschaftliche Geographie ist zugleich Natur- und Gesellschaftswissenschaft und wird entsprechend in die Physische Geographie und die Humangeographie unterteilt. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Humangeographie, wie sie in der Regel auch Teil von Curricula der Lateinamerikastudien ist.

Nachgefragt bei Prof. Dr. Miriam Lay Brander 17.02.2023
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Was hat Europa mit Lateinamerika zu tun? Einiges: Über die dominierenden Sprachen Spanisch und Portugiesisch hinaus haben europäische Kolonialisten diese Region maßgeblich geprägt. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Handbuch, in dem 22 Autorinnen und Autoren eine „Einführung in die Lateinamerikastudien“ bieten. Wir haben mit der Herausgeberin Prof. Dr. Miriam Lay Brander gesprochen. mehr …


Was ist Humangeographie?

Die Humangeographie rückt das Verhältnis von Mensch und Raum in den Mittelpunkt ihres Interesses. Betrachtet werden räumliche Strukturen, raumwirksame Prozesse und Raumkonstruktionen. Bis heute gilt die wissenschaftliche Untersuchung räumlicher Anordnungsmuster als Kernkompetenz des Faches, sichtbar als Kategorisierungen etwa in Form von Klimazonen, Wirtschafts- oder Verkehrsregionen oder baulichen Strukturen in Städten oder Planungsregionen (Freytag et al. 2016: 2; Gebhardt et al. 2020b: 16). Sie dienen der systematischen Ordnung der Wirklichkeit und sorgen für Überschaubarkeit durch die Reduktion komplexer Phänomene auf eine greifbare Anzahl an Typen. Solchen Regionen und Regionalisierungen liegt allerdings eine intellektuelle Abstraktion der ‚Wirklichkeit‘ zugrunde. Anders ausgedrückt werden Räume im Rückgriff auf bestimmte theoretische Perspektiven und mittels auf ihnen aufbauenden methodisch-technischen Verfahrensweisen konstruiert. Diese Raumkonstruktionen sind nicht natürlich gegeben und damit auch nicht starr und objektiv, sondern unterliegen fortwährenden Aus- und Neuverhandlungen. Hier setzt die moderne Geographie an: sie beschäftigt sich mit der Konstitution sowie Konstruktion von Räumen (Gebhardt et al. 2020b: 16; Werlen 2008: 11). Laut Gebhardt und Reuber (2020: 662) besteht die Kernaufgabe des Faches darin, „das ‚Raum-Machen‘ der Gesellschaft und die daraus entstehenden ‚Geographien‘ als gesellschaftlich konstruierte, raumbezogene und performativ wirksame Strukturierungen wissenschaftlich zu untersuchen“.

Räume werden dabei auf verschiedenen Maßstabsebenen ausgehandelt. Im Bereich der internationalen Beziehungen beobachten wir etwa die Herausbildung neuer oder den Zerfall alter Staaten sowie die Transformation von Staatlichkeiten, wie beispielsweise die Demokratisierung von Diktaturen in Lateinamerika (→ Kap. 6). In ökologischer Hinsicht entstehen ebenso neue Räume im Ausnahmezustand, wenn wir zum Beispiel an von Waldbränden heimgesuchte Gebiete im Amazonas oder an von Ressourcenextraktion geprägte Regionen wie den eingangs erwähnten Nordosten Kolumbiens denken. Jüngst ging in vielen lateinamerikanischen Staaten auch die Covid-19-Pandemie mit Aushandlungsprozessen von Risiko- und Sperrgebieten einher. Dabei unterliegt nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung von Staaten oder Regionen einem stetigen Wandel. Als Beispiel steht hier das wirtschaftliche Aufstreben der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) den krisengebeutelten USA gegenüber (Freytag et al. 2016: 2; Gebhardt et al. 2020b: 17).

[…]

Auch auf der Mikroebene einzelner Menschen und ihrer Körper finden Aushandlungs- und Exklusionsprozesse statt, nämlich in Bezug auf Identitäten. Lange Zeit wurde die Identität einer Person als unveränderliche, essenzialistische Eigenschaft angesehen, die eine klare soziale und räumliche Zuordnung erlaubt. Heutzutage gilt Identität jedoch keineswegs als statisch, sondern – analog zu Räumen wie nachfolgend erläutert wird – als politisch und sozial konstruiert und damit stets im Wandel (Korf und Wastl-Walter 2016: 102). Um vor diesem Hintergrund zeitgenössischen Lebensrealitäten zu begegnen, integriert die geographische Migrationsforschung zunehmend Ansätze der Translokalität (Wehrhahn 2016: 59). Die Translokalitätsforschung thematisiert die Kopräsenz von Personen, Familien und Haushalten alternierend an verschiedenen Orten und damit die Verbindung von sogenannten Aktivitätsräumen, angetrieben durch neue Kommunikations- und Mobilitätsbedingungen (Gebhardt et al. 2020b: 22). Betont wird dabei die Verbindung und Durchlässigkeit dieser Räume bis hin zu einem sozialen Raum. Der soziale Raum einer lateinamerikanischen Familie kann folglich am Heimatort in Lateinamerika sowie an verschiedenen Orten im Ausland lokalisiert sein, abhängig davon, wo sich Familienmitglieder temporär oder längerfristig aufhalten. Methodisch werden, meist mit Ansätzen der Netzwerkanalyse, der Austausch von Ressourcen und Informationen oder auch kulturelle Beziehungen in den Blick genommen (Wehrhahn 2016: 59 ff.). Konkrete Fragestellungen adressieren beispielsweise, wie sich Kommunikationspraktiken durch Translokalität wandeln oder wie die Räume der translokal lebenden Menschen durch die Herausbildung spezieller Dienstleistungen der ‚Heimatkultur‘, wie Restaurants, Gebetsräume oder Großhandelsbetriebe, als sogenannte transient urban spaces umgestaltet werden (Wehrhahn et al. 2014).

Mit der nationalen Zugehörigkeit sind allerdings oftmals auch Ein- und Ausgrenzungen als ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘, als insider und outsider verbunden, was wiederum unterschiedliche Konsequenzen für das alltägliche Leben hat. So gestaltet sich die Einreise eines Mexikaners oder einer Mexikanerin in die USA oftmals schwieriger als diejenige von US-Amerikaner*innen nach Mexiko. Alter, Geschlecht oder Hautfarbe können auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten zu einem Ein- oder Ausschluss führen, z. B. durch geschlechtsspezifische Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben sowie entsprechende Polizei- und Grenzkontrollen oder die selektive Exklusion in Einkaufszentren (Gebhardt et al. 2020b: 17 ff., 25 ff.). Die Geographie nimmt auch die gesellschaftlichen Vorstellungen und öffentlichen Diskurse in den Blick, die solche unterschwelligen Ausgrenzungen in unserem Alltag bestimmen und legitimieren. Gemeint ist also nicht nur der Raum in seiner Dinglichkeit, sondern auch der Raum in unseren Köpfen. Besonders die Art und das Entstehen von Vorstellungen, die wir uns von fremden und eigenen Orten und Regionen aneignen, oder die symbolische Bedeutung, die wir bestimmten Orten zuschreiben, interessieren Geographinnen und Geographen (in Bezug auf selbstgebaute Wohnviertel, z. B. Favelas → Kap. 9.2.1) (Korf und Wastl-Walter 2016).

Das deutsche Wort ‚Weltanschauung‘ steht laut Korf und Wastl-Walter (2020: 90) zusammenfassend für die Inhalte dieses Teilbereichs der Geographie, der weitestgehend von der Kulturgeographie mit einer konstruktivistischen Grundhaltung behandelt wird. In deren Kern stehen Fragen nach […].

Sie sind neugierig, wie es weitergeht? Der Titel erscheint im März 2023 und kann hier vorbestellt werden.

Zur Herausgeberin
Miriam Lay Brander ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Direktorin des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS). Seit über zehn Jahren forscht und lehrt sie im Bereich der lateinamerikanischen Literaturen und Kulturen.

Einführung in die Lateinamerikastudien. Ein Handbuch
Herausgegeben von Miriam Lay Brander

Der vorliegende Band bietet eine fundierte Einführung in die interdisziplinären Lateinamerikastudien. Er gibt einen Überblick über das Fach, indem er seine disziplinäre Vielfalt aufzeigt, es zugleich aber als Einheit greifbar macht. Das Handbuch geht sowohl auf größere Zusammenhänge als auch auf zentrale Fragestellungen der Lateinamerikastudien ein und illustriert diese anhand von ausgewählten Fallbeispielen. Neben den traditionellen Teildisziplinen der Lateinamerikanistik (Altamerikanistik und Anthropologie, Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft, Geschichts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Geographie) werden auch neuere lateinamerikanistische Forschungsgebiete wie die Konflikt- und Friedensforschung, die Protest- und Bewegungsforschung und Interkulturelle Kommunikation berücksichtigt.
Die Autorinnen und Autoren sind etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im jeweiligen Teilbereich der Lateinamerikastudien, wobei auch ausgewiesene Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Deutschland und Lateinamerika mit einbezogen wurden.
Die Einführung richtet sich insbesondere an Studierende von Studiengängen im Bereich der interdisziplinären Lateinamerikastudien und darüber hinaus an alle, die sich beruflich oder privat für Lateinamerika interessieren.

Programmbereich: Romanistik