Wie schreiben Ihre Kinder: Nehmen sie das ‚farat‘ – oder das ‚Fahrrad‘?
Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Buch Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik, das soeben im Erich Schmidt Verlag erschienen ist.
Die Rechtschreibung zu erlernen und auf einem angemessenen Niveau zu beherrschen, hat in der deutschen Öffentlichkeit eine herausragende Bedeutung. Nach einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2011 nimmt in der Bevölkerung insgesamt wie unter Eltern von Schulkindern die Erwartung, dass die Schule eine „gute Beherrschung von Rechtschreibung und Grammatik“ vermitteln sollte, den höchsten Rangplatz ein. Bei Eltern von Schulkindern liegt die Zustimmung zu dieser Erwartung bei 93 %, in der Bevölkerung insgesamt bei 86 % und bei Lehrern mit 77 % deutlich darunter. Die Erwartung, einen „großen Wortschatz“ und „Gewandtheit in der Sprache“ zu vermitteln, ist gegenüber Rechtschreibung und Grammatik geringer. In der Bevölkerung liegt die Zustimmung hier bei nur 56 %, bei Eltern von Schulkindern ist sie mit 50 % noch geringer. Höher sind dagegen die Erwartungen an die schulische Vermittlung von Tugenden wie Pünktlichkeit, Hilfsbereitschaft, Selbstbewusstsein oder „Höflichkeit und gute Manieren“.
Schreiben nach Gehör
Anhand dieser Ergebnisse der Allensbach-Studie ergibt sich der bemerkenswerte Befund, dass bei der Vermittlung von Rechtschreibung und Grammatik sowie von Höflichkeit und guten Manieren, für die der Gebrauch der Sie-Anrede als Höflichkeitsform symptomatisch wäre, deutliche Unterschiede zwischen den Vorstellungen von Eltern und Lehrpersonen bestehen. Aus dieser Diskrepanz ergeben sich vor allem in den ersten Schuljahren bei der Vermittlung der Rechtschreibung Konflikte, die in den Medien zu öffentlichen Kontroversen fuhren, aber auch vor Ort an Grundschulen in der Auseinandersetzung zwischen Lehrern und Eltern.Sie entzünden sich an der Frage, in welchem Ausmaß und mit welcher Konsequenz Kinder beim Erlernen des Schreibens von Anfang an die Regeln der Rechtschreibung beachten müssen, oder ob es ihnen erlaubt wird, zunächst anhand der Aussprache und des Eindrucks, den sie beim Hören von Wörtern bekommen, schreiben dürfen. Dieses ‚Schreiben nach Gehör‘ hat den Vorteil, dass Kinder sehr früh eigene Gedanken und Äußerungen verschriftlichen können, ohne sich um korrekte Schreibungen scheren zu müssen. Entsprechend hoch ist die Motivation der Kinder, bereits wenige Wochen nach Schuleintritt eigenständig Texte zu verfassen.
Spiegel.de: „Vielbeachtete Langzeitstudie mit Viertklässlern“ |
Wolfgang Steinigs Arbeit ist über die Fachkreise hinaus beachtet worden. In einem aktuellen Beitrag befasst sich Spiegel.de mit der Studie zum Thema Rechtschreibung in Grundschulen – und mit Steinigs Buch. |
Nachteilig ist bei diesem Vorgehen, dass Schreibungen nach Gehör schwer lesbar sind, da sie, je nach Aussprache und Hörvermögen, höchst unterschiedlich ausfallen und oft auch von den Schreibern selbst am nächsten Tag nicht mehr gelesen werden können. Ein weiterer Nachteil liegt darin, dass sich die Schere zwischen Kindern, die rasch und hoch motiviert längere Texte schreiben, und Kindern, denen das Isolieren einzelner Laute eines Wortes nur schwer gelingt und die auch mit Hilfe einer Anlauttabelle nur schlecht einzelne Laute Buchstaben zuordnen können, nach wenigen Wochen weit öffnet.
Und schließlich ergeben sich Probleme, wenn die Kinder nach Monaten oder gar erst ab dem dritten Schuljahr dazu angehalten werden, die Regeln der Rechtschreibung zu beachten. Viele Kinder wollen es dann nicht einsehen, das für sie angenehme und relativ mühelose Schreiben nach Gehör aufzugeben, um nun orthografisch normiert zu schreiben. […]
Spracherfahrungsansatz und Lesen durch Schreiben
In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den richtigen Weg für den Erwerb der Rechtschreibung lassen sich zwei unterschiedliche Richtungen unterscheiden: einerseits pädagogisch motivierte Ansätze, die sich an den individuellen Lernwegen der Kinder orientieren wie der Spracherfahrungsansatz (vgl. Brugelmann 2005) und die Methode Lesen durch Schreiben nach Jürgen Reichen (1981), andererseits fachdidaktisch orientierte Ansätze, die vor dem Hintergrund einer linguistisch fundierten Analyse des deutschen Schriftsystems die Vermittlung der Rechtschreibung ‚von Anfang an‘ empfehlen. Diese grundsätzlich unterschiedlichen Wege haben zur Folge, dass sich der Stellenwert der Rechtschreibung unterscheidet: quantitativ gemessen am zeitlichen Aufwand, den man im Deutschunterricht dafür zur Verfügung stellt und qualitativ, wie man die orthografischen Regularitäten erklärt und üben lässt oder wie tolerant man gegenüber Fehlschreibungen ist.Wie auch immer ein bestimmter Ansatz bezeichnet wird, er ließe sich auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen eines hohen und eines niedrigen Stellenwerts der Rechtschreibung eintragen. Ist ihr Stellenwert niedrig, werden die Kinder einige Zeit, je nach ihrer Entwicklung, Wörter so schreiben dürfen, wie sie sie hören und sprechen. Ihnen wird ein mehr oder weniger langes Entwicklungsfenster eingeräumt, in denen sie sich durch Erfahrung und entdeckendes Lernen schrittweise der Rechtschreibung annähern.
In Ansätzen, in denen der Stellenwert der Rechtschreibung hoch ist, werden Lehrkräfte dagegen weniger bereit sein, Fehler als Teil eines Entwicklungsprozesses zu tolerieren. Sie machen vielmehr auf sie aufmerksam, korrigieren sie selbst oder lassen sie korrigieren und bemühen sich, Kindern die orthografischen Regularitäten anhand von Modellen, Erklärungen und Übungen möglichst früh zu vermitteln.
Wolfgang Steinig im Interview:
Steinig: „Es geht beim Anredeverhalten, der Rechtschreibung und der Handschrift um soziale Normen“
Das Buch Das Buch Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik ist im September im Erich Schmidt Verlag als Print und eBook erschienen. Sie können es bequem hier bestellen. |
Der Autor Prof. Dr. Wolfgang Steinig hat als Germanist in München, in Heidelberg und zuletzt an der Universität Siegen gearbeitet, außerdem mehrere Jahre an einer britischen, griechischen und niederländischen Universität. Er ist Autor von Lehrbüchern, wissenschaftlichen Monographien und Artikeln zum schulischen Schreiben, zum Deutschen als Zweit- und Fremdsprache, zur Soziolinguistik und zur Sprachevolution. |
(ESV/ln)
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik