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Modell einer Shakespeare-Bühne: publikumsnah und dekorationsarm (Utrecht, University Library, Adversaria / Arnoldus Buchelius. UBU Hs. 842 (Hs 7 E 3))
Auszug aus: ARCHIV für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

Wo der Genius Shakespeares über einer Suppenterrine zu finden ist

ESV-Redaktion Philologie
08.01.2021
Sagt Ihnen der Name Dietrich Schwanitz noch etwas? Von ihm stammt das in vielerlei Hinsicht gewichtige Buch „Bildung. Alles was man wissen muss“ (1999), ebenso ein Campusroman („Campus“, 1993), für den er durch seine universitäre Karriere bis hin zum Lehrstuhl für Englische Literatur an der Universität Hamburg sicherlich reiches Anschauungsmaterial fand.
Der Hamburger Zeit setzte Schwanitz durch seinen vorgezogenen Ruhestand 1998 jedoch ein überraschendes Ende (zugleich Beginn von Spekulationen) und ließ seiner Begeisterung für Literatur im Allgemeinen und Shakespeare im Besonderen andernorts freien Lauf: Im süddeutschen Breisgau, wo er einen alten Gasthof mit Bühne erwarb und dort ein großes Wandgemälde anfertigen ließ, Shakespeare sowie seine eigene Person inklusive.

In ihrem Beitrag „Das Paradox des Originals. Dietrich Schwanitz und William Shakespeare auf dem Dorfe“ geht Ursula Schaefer dem Gemälde im Kontext von Schwanitz‘ Welt- und Shakespeare-Bild auf den Grund. Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Text, der in der Zeitschrift ARCHIV, Band 257 (2/2020) veröffentlicht wurde:

„Zu berichten ist hier über ein Wandbild, das mit rund 2,50 Meter Höhe und 8,80 Meter Breite die hintere Bühnenwand des Theatersaals eines ehemaligen Landgasthofs im Rheintal südlich von Freiburg ausfüllt. In leuchtenden Farben tafelt dort eine edle Gesellschaft der Renaissancezeit. Wer sich ein wenig mit Shakespeare auskennt, erblickt sogleich – von halblinks hinten und lebensgroß – Hamlet, der vor der Tafel im schwarzen Wams den Schädel Yoricks betrachtet, ganz rechts Titania, die verzückt das Ohr des eselsköpfigen Bottom krault, auf der äußersten linken Seite Romeo, der Julia auf die Wange küsst, und in der Mitte rechts Königin Elisabeth I. nach dem berühmten Armada-Portrait mit dem Ehrengast William Shakespeare links an ihrer Seite. Dazwischen zu beiden Seiten andere Shakespearefiguren und, nicht zuletzt, in elisabethanischem Gewand eines Gelehrten Dietrich Schwanitz. Ein ungewöhnliches Bild an ungewöhnlichem Ort: Das legt nahe, dass dahinter auch eine ungewöhnliche Geschichte steckt. Von dieser Geschichte, von diesem Ort und natürlich vom Bild soll im Folgenden die Rede sein. Andere haben dies – im journalistischen Feuilleton – schon vor mir getan. Doch denke ich, diese Geschichte wäre durchaus auch darüber hinaus von Interesse. Dabei muss ich allerdings sofort einschränken, dass meine Darstellung nur in begrenztem Maß bestimmten Geboten der Wissenschaftlichkeit, insbesondere der Nachweispflicht, genügen kann. Das hat mehrere Gründe. Zum einen spreche ich hier oft aus persönlicher Erinnerung, denn Dietrich Schwanitz, der dieses Bild 2002 in Auftrag gab, und ich waren 1970 bis zu seinem Weggang 1978 ‚Mittelbau‘-Kollegen am Freiburger Englischen Seminar. Zum anderen beschäftigte ich mich intensiv mit dem Wandbild, weil ich von 2015 bis 2017 an der Realisierung einer kleinen Dauerausstellung zum Leben und Werk von Schwanitz mitwirkte, die nun in diesem ehemaligen Landgasthaus, dem „Salmen“ in Hartheim, zu besichtigen ist. […]

„Rumexperimentieren“ auf der Gasthof-Bühne


Für den kleinen Kreis seiner Freiburger Freunde aus alten Studien- und Theaterzeiten war es irgendwie nicht überraschend, dass Schwanitz im Jahr 2001 jenen ziemlich maroden, verlassenen Gasthof in Hartheim, 20 Kilometer südlich von Freiburg gekauft hatte. Als Student lebte er Mitte der 1960er schon einmal in der Gegend, und der Umstand, dass sich in diesem Hartheimer Gasthof ein Saal mit Bühne befand, war ein einsichtiger Grund für diesen Immobilienerwerb. Was aber wollte er damit anfangen?

In einem SWR-Interview gab Schwanitz an, er plane, in dem alten Gasthof eine „Schreibwerkstatt“ einzurichten. In seinen letzten aktiven Hamburger Jahren habe er von einem ortsansässigen „Medienkonzern“ eine Stiftungsprofessur samt Ausstattung und Geldern zur Finanzierung anzumietender Räumlichkeiten eingeworben, um „creative writing“ zu lehren. Das Hamburger Seminar habe diese Pläne jedoch zunichte gemacht. Insofern sei der Kauf des „Salmen“ in Hartheim eine „Trotzreaktion“, denn dort solle nun dieses Projekt auf „semiprivater Basis“ realisiert werden. Der Theatersaal, so Schwanitz, biete mit seiner Bühne einen hervorragenden Ort zum „Rumexperimentieren“. Auf die Frage, welchen Zweck dann das – zum Zeitpunkt des Interviews gerade entstehende – Wandbild mit Shakespearefiguren erfüllen soll, gab Schwanitz eine bemerkenswerte Antwort: Das gebe dem Raum eine „luxurierende Qualität“, die auch eine Wertschätzung der zukünftigen Workshop-Teilnehmer ausdrücken sollte.

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Was auch immer mit diesem Anwesen tatsächlich geschehen sollte: 2002 engagierte Schwanitz die Künstlerin (und studierte Anglistin) Andrea Berthel (geb. 1958) mit dem Auftrag, den Theatersaal auszumalen. Schließlich realisierte sie jenes riesige Bild als „Apotheose Shakespeares“, wie Schwanitz es einmal charakterisierte.

Anmerkungen zum Wandbild


Bevor die Künstlerin ans Werk gehen konnte, war zu klären, was ihr Auftraggeber eigentlich gemalt haben wollte. Fest stand wohl von Anfang an, dass sich alles auf Shakespeare konzentrieren sollte. […] Das monumentale „Gastmahl Gregors des Großen“ von Paolo Caliari, genannt Veronese (1528–1588) sollte als ‚Gastmahl Elisabeths der Ersten‘ mit Shakespeareschem Personal bevölkert werden.

Während die Breite ziemlich genau mit der horizontalen Abmessung der Wand im „Salmen“ übereinstimmte, musste die Malerin die Höhe fast um die Hälfte reduzieren. Und es gab noch ein weiteres Problem: Im Zentrum des Originals thront der gastgebende Papst, doch springt genau in der Mitte der hinteren Wand der Hartheimer Bühne längs ca. 50 cm breit die Mauer ein paar Zentimeter vor. Diesen Vorsprung „konnte man nicht wegmalen“, erzählt Berthel. Die neue Gastgeberin Elisabeth I. wurde nach rechts verschoben, und auf den Vorsprung malte die Künstlerin eine Stele mit einer darauf platzierten dampfenden Suppenterrine. In einer Blase darüber ein schwebender Putto, was erst einmal nicht so originell ist, denn auch bei Veronese finden sich in der Mitte oben zwei fliegende Putti. Andrea Berthel erklärt, dieser Putto in der Blase stelle den Genius Shakespeares dar.

Der mitte-links sitzende Shakespeare scheint auf den ersten Blick den wohlbekannten Holzschnitt auf der Titelseite der ersten Folio-Ausgabe wiederzugeben. Horst Breuer, der unser Ausstellungsprojekt begleitet hat, wies uns darauf hin, dass das Vorbild tatsächlich eine modifizierte und seitenverkehrte Abbildung ist, die sich auf dem Titelblatt von Shakespeare’s Collected Poems aus dem Jahr 1640 befindet. Dort hält Shakespare in der linken Hand einen Lorbeerzweig, auf dem Wandbild hält seine rechte Hand – aufgestützt auf der Tafel – einen ovalen Spiegel, wo die entsprechende Figur im Original einen geneigten Teller hält. Der Zeigefinger der linken Hand deutet auf das, was dort zu sehen ist, und gehe auf einen spontanen Einfall der Künstlerin zurück, an dem ihr Auftraggeber größten Spaß gehabt habe: den zierlichen Po des Putto in der Blase. Die Bildtiefe zwischen dieser Stele mit Stillleben und Suppenterrine und der Tafel des Gastmahls wird – ganz ohne Vorbild – dadurch visualisiert, dass rechts unten auf der Bodenebene der Bühne eine braun-weiße englische Bulldogge ihr Bein an eben dieser Stele hebt. Ein weiterer Spaß, über dessen tiefere Bedeutung wir durchaus nachdenken dürfen.

Regie am Bild


Der reine Spaß war die Arbeit am Bild dann aber doch nicht: Schwanitz agierte, wie er es gewohnt war, nämlich als Regisseur, der recht genaue Vorstellungen davon hatte, wie das Tableau des Paolo Veronese letztlich als das von ihm, Schwanitz, imaginierte Szenario auszusehen habe. Andrea Berthel berichtet, wie mühsam dies war. Unermüdlich spürte Schwanitz in Antiquariaten Kunstbände mit möglichen Bildvorlagen auf. Was dann in der Umsetzung nicht gefiel, musste sie wieder abschmirgeln, die Stelle neu weißen und mit einem Föhn trocknen, ehe sie mit der neuen Version beginnen konnte. Sieben Desdemona-Versionen – „von renitent bis muffig“, wie Berthel sagt – wurden auf diesem Weg realisiert, bis sich Schwanitz zufrieden zeigte.

Im fast vollkommen symmetrisch komponierten Gemälde von Paolo Veronese stehen vor der rechten und linken Seite der Tafel je zwei Säulen. Vor den äußeren Säulen konturieren sich im Wandbild rechts Titania und links Julia. Etwas verdeckt durch die Säule, vor der Julia sich zu Romeo neigt, sitzt Schwanitz im schwarzen Habit eines Gelehrten der Shakespearezeit, rechts versetzt hinter ihm steht Lady Macbeth, der die Künstlerin auf den Wunsch von Schwanitz ihr eigenes Gesicht verliehen hat. Dass beide da abgebildet sind, sei Ergebnis eines Kompromisses, den Andrea Berthel ihrem Auftraggeber abgetrotzt habe. Er wollte, dass sie sich selbst abbildet, und sie wollte dem nur nachkommen, wenn sie auch ihn ins Bild bringen durfte. Der Zusammenhang ist allerdings wohl noch ein wenig intrikater.“

Haben wir Sie neugierig gemacht auf diese intrikaten Zusammenhänge? Inwiefern die dramatis personae des Bildes mit Schwanitz‘ Shakespeare-Inszenierungen und seinem Verständnis von Luhmanns Systemtheorie in Verbindung stehen, können Sie in Heft 2/2020 der Zeitschrift ARCHIV nachlesen. Hier geht es zur digitalen Ausgabe: https://archivdigital.info

(ESV/MD)

Programmbereich: Anglistik und Amerikanistik